Windig? Weltstadt!

Die „schimmernde Pracht“ der „weiten und herrlichen Ringstraße“, das „Rauschen und Brausen des Wiener Lebens“: Julius Rodenberg und die Weltausstellung 1873 – wie ein Journalist aus Berlin am Wien-Klischee werkt.

Schon lange hatte Wien auf die Abhaltung einer Weltausstellung gewartet, im Jahr 1873 war es endlich soweit. Nach London und Paris übernahm die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien als dritte europäische Metropole die repräsentative Aufgabe, „das Kulturleben der Gegenwart sowie die Gesamtheit der volkswirtschaftlichen Darstellungen und deren Fortschritte“ aufzuzeigen. Es war ein Unternehmen der Superlative: Von Mai bis Oktober präsentierten sich insgesamt 35 Länder mit 53.000 Ausstellern. Ausstellungsorte waren der Prater und die Krieau, wo eine Fläche von rund 2,3 Millionen Quadratmeter (ein bei derartigen Veranstaltungen noch nie da gewesenes Ausmaß) zur Verfügung stand.

Drei große Hallen waren errichtet worden, umgeben von zahlreichen Pavillons, die dem Gelände den Charakter einer Ausstellungsstadt verliehen. Zentraler Blickfang war die Industriehalle, ein lang gestrecktes Gebäude, das von mehreren Querschiffen durchbrochen wurde. In deren Zentrum befand sich die riesige Rotunde, mit einer Spannweite von 108 Metern der damals größte Kuppelbau der Welt. Obwohl die Ausstellung mit widrigen Umständen zu kämpfen hatte (schlechtes Wetter, mangelnde Vorbereitungen, Börsencrash, Ausbruch der Cholera) und die Besucherzahlen weit hinter den Erwartungen zurückblieben, hatte man auf symbolischer Ebene das Ziel erreicht: die Steigerung und Anerkennung der Bedeutung Wiens bis weit jenseits der Grenzen des Habsburgerreiches.

Mitverantwortlich dafür war nicht zuletzt das enorme Medieninteresse. Korrespondenten aus der ganzen Welt reisten an, darunter zahlreiche arrivierte Weltausstellungsreporter wie der Berliner Julius Rodenberg, der im Auftrag der „Neuen Freien Presse“ von dem Großereignis berichtete. Für den 42-jährigen Publizisten war die Stadt keineswegs mehr Neuland. Schon mehrmals war er hier gewesen, bisweilen hatte er sogar überlegt, sich in Wien sesshaft zu machen. Er liebte die Musik- und Theateraufführungen der Stadt, und durch seine langjährige Tätigkeit für die „Neue Freie Presse“ war er ihr innerlich weit mehr verbunden als vielen anderen Metropolen Europas. Mit Begeisterung und großem Kenntnisreichtum betätigte er sich als „Wanderer“ und Kundschafter, der seinen Lesern die Vielfalt der Weltausstellung ebenso zu erschließen versuchte wie jene der Stadt selbst. 1875 veröffentlichte Rodenberg seine Reportagen in Buchform: „Wiener Sommertage“ war ein Reiseführer der besonderen Art geworden, eine Liebeserklärung an die Schönheit und den kulturellen Reichtum der Stadt.

Rodenbergs Berliner Kollege Friedrich Tietz und der Schweizer Ökonom August Oncken lieferten weitere interessante Fremdblicke auf die Stadt, mehrere reich bebilderte „Weltausstellungs-Alben“ erschienen, bis hin zu einem „Technischen Führer“ und der originellen Satire „Wien und die Wiener aus der Spottvogelperspektive“. Wenngleich die jeweiligen Schilderungen in ihrer Einschätzung von lobend-euphorisch bis ironisch-kritisch reichten, so waren sich die Autoren doch in einem Punkt einig: Wien war auf dem Weg zur „Weltstadt“.

Der Beginn des Aufbruchs zur „Weltstadt“ war 1873 schon rein äußerlich deutlich zu erkennen. Kernzone der Veränderung war die neue Ringstraße: Obwohl an vielen Stellen noch Baustelle, hatten sie die Ausstellungsorganisatoren geschickt als eigene Attraktion promotet, als „work in progress“ und gleichsam innerstädtische Expositur der Weltausstellung. Mit großem Erfolg, wie auch Julius Rodenberg zugestand, der von der „schimmernden Pracht“ der „weiten und herrlichen Ringstraße“ schwärmte, „eine Überraschung für den Fremden, der Wien seit zehn Jahren nicht gesehen“.

Um Wien „weltstadtreif“ zu machen, hatten Stadtverwaltung und private Investoren noch zahlreiche weitere, vor allem infrastrukturelle Maßnahmen ergriffen. Die internationalen Bahnverbindungen wurden ausgebaut, die Linien der Pferdestraßenbahn erweitert, das Lohnfuhrwerkswesen durch die Freigabe der Konzessionen stimuliert. Auf dem Donaukanal wurde ein regelmäßiger Linienschiffsverkehr eingerichtet, das bereits fortgeschrittene Großprojekt der Donauregulierung wurde weiter vorangetrieben. Auf den Leopoldsberg konnte man seit Neuestem mit einer Drahtseilbahn fahren, eine geplante Zahnradbahn auf den Kahlenberg war allerdings nicht rechtzeitig fertig geworden. Ebenso wie die Erste Wiener Hochquellenwasserleitung, deren Eröffnung erst im Oktober, knapp vor Ausstellungsende, gefeiert wurde.

Die städtebaulichen und verkehrsinfrastrukturellen Maßnahmen bedeuteten einen Modernisierungsschub, der die Entwicklung der Stadt nachhaltig prägte. Ob es genügte, um Wien zur „Weltstadt“ zu erheben, darüber entbrannten in den Medien immer wieder Diskussionen. Auch Julius Rodenberg nahm darauf Bezug, indem er in seine Schilderungen gleichsam als Subtext einen Kriterienkatalog einbaute, anhand dessen er die „Weltstadtreife“ Wiens diskutierte.

Schon rein akustisch wurde ihm das meeresähnliche „Rauschen und Brausen des Wiener Lebens“ zum charakteristischen Soundtrack einer „Weltstadt“. Auch die fortgeschrittene öffentliche Beleuchtung der Straßen und Plätze verströmte für ihn weltstädtisches Flair, ließ alles „majestätisch und groß“ erscheinen. Ein sinnliches Charakteristikum der besonderen Art erschien der häufige „unmotivierte Wind, der einen plötzlich wüthend anfällt, man weiß nicht, warum und woher“. Er verhelfe Wien zu dem Ruf, die windigste aller Städte zu sein mit anhaltend „großem Zug“. Ein eher problematisches Kapitel war das in Wien relativ komplizierte System der Hausnummerierung. Noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein bestand ein undurchsichtiges Nebeneinander verschiedener Adressierungsmodalitäten, die Nummerierung selbst hatte sich noch lange nicht überall durchgesetzt. Auch Rodenberg bemängelte, dass Wien sich an die „nüchterne Nummer nur äußerst schwer gewöhnt hat“ und dem Wiener schlicht „die nackte Zahl widerstrebt“. Resigniert musste er am Ende seines Aufenthalts feststellen: „Nachdem ich vier Wochen lang in Wien umhergepilgert war, gab ich es auf, mich jemals darin zurechtzufinden.“

Ähnlich rückständig empfand Rodenberg die Tatsache, dass die Wohnungsmieter keinen Hausschlüssel besaßen, sondern allein die Hausmeister im Besitz eines solchen waren. Derartiges würden sich die Berliner Bürger niemals gefallen lassen. (Trotz anhaltender Diskussionen sollte es noch lange dauern, ehe Wien in diesem Punkt „Weltstadtreife“ erlangte. Erst 1922 wurde der freie Zugang zum Haus für alle Bewohner Realität.)

Auf „weltstädtische“ Unterhaltung der Superlative traf Rodenberg vor allem im Wurstelprater, der mit oft erstmals in Europa gezeigten Attraktionen lockte, während die Innere Stadt mit ihrer enormen Geschichtsträchtigkeit der Gebäude und Plätze punktete. Sichtbarer Ausdruck dessen war die Fülle an Gedenktafeln, die er als „lobenswürdigste Einrichtungen“ der Stadt pries, würdig einer wahren „Weltstadt“, aus deren Zentrum – symbolisch wie real – der Stephansdom herausrage.

Letztlich gab es aber vor allem ein Gebiet, auf dem man, so Rodenberg, am überzeugendsten „Weltstadt“ sei: „Wien ist vor allem die Stadt der Musik.“ Ausführlich schildert er die Gedenkstätten von Mozart, Beethoven oder Schubert, die ihm den hohen Stellenwert bezeugen, den die Musik in der Stadt genieße. Als Musikliebhaber und enger Freund des berühmt-berüchtigten Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick konstruierte Rodenberg somit jenes mächtige Image mit, das Wien bis heute begleitet, als Stadt mit ausgeprägtem Hang zu Musik, Nostalgie und Gemütlichkeit.

Ob Wien sich mit diesen, durchaus subjektiven und keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Kriterien erfolgreich Weltgeltung verschaffte oder ob Wien doch stets die „größte Kleinstadt der Welt“ bleibe, wie manche behaupten, das war zumindest für Julius Rodenberg keine Diskussion. Obwohl er später in Berlin Karriere machte und als Herausgeber der „Deutschen Rundschau“ zu einem der berühmtesten Exponenten des deutschen Kulturlebens avancierte, behielt er einen Eindruck doch zeitlebens bei: „In Berlin ist alles klar und nüchtern und verständig wie ein Werkeltag. In Wien hat man immer die Vorstellung, als ob irgendein Feiertag in der Luft sei.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2009)

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