Forschung

Inzucht führte zur dicken Lippe der Habsburger

Karl II. von Spanien (1661–1700).
Karl II. von Spanien (1661–1700).(c) PEPE MORON/ KHM
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Erstmals (fast) bewiesen: Dynastische Heiratspolitik und deformierte Kiefer hängen miteinander zusammen.

„Du, glückliches Österreich, heirate“, am besten enge Verwandte? Glücklich kann man das Leben Karls II. von Spanien kaum nennen. Der Habsburger lernte erst mit vier sprechen, mit acht gehen, er blieb infantil und geistesschwach, de facto unfähig zu regieren. An Nachwuchs war trotz zweier wie üblich arrangierter Ehen nicht zu denken. Und so starb mit ihm die spanische Linie der Dynastie aus, der Traum vom friedlich erheirateten Weltreich endete im Erbfolgekrieg.

Die Abergläubigen im 17. Jahrhunderts hielten Karl für verhext, aber auch Exorzisten heilten ihn nicht. Natürlich war die Inzucht schuld!, sagen wir heute. Liegt ja nahe: Alle seine Urgroßeltern stammen direkt von derselben Johanna ab, die man „die Wahnsinnige“ nannte.

Aber wissenschaftlich nachzuweisen ist der Zusammenhang nur schwer. Einem Team um Román Vilas von der Uni in Santiago de Compostela ist es nun für die berühmte „Habsburger-Lippe“ erstmals (fast) gelungen (Annals of Human Biology, 2.12.). Bei dieser Erbkrankheit geht es weniger um die ausgestülpte Unterlippe als um einen stark überentwickelten Unterkiefer. Dieser hing bei vielen Habsburgern mit einem deformierten Oberkiefer zusammen, der sich oft in einer überhängenden Nasenspitze und Hökern am Nasenrücken manifestierte. Wer Pech hatte, wie Karl II., bei dem war die ganze untere Gesichtshälfte entstellt.

Das Museum als Labor

Eine Folge der Inzucht? Für den Beweis rekrutierten die Autoren zehn Gesichtschirurgen und legten ihnen 66 als realitätsnah geltende Porträts von 15 Habsburgern vor, die meisten aus dem Prado und dem Wiener Kunsthistorischen Museum. Die Ärzte diagnostizierten die Schäden, während die Forscher anhand des Stammbaums den Grad der Inzucht bei den Porträtierten ermittelten.

Die Korrelation war bei den Unterkieferschäden überraschend stark und klar statistisch signifikant. Der Kausalzusammenhang dahinter läuft üblicherweise so: Die meisten Erbkrankheiten sind auf „rezessiven“ Genen kodiert – sie brechen nicht aus, wenn das entsprechende Gen des anderen Elternteils gesund ausprägt ist. Sobald aber Verwandte sich miteinander fortpflanzen, ist die Gefahr viel größer, dass die relevanten Gene von Vater und Mutter gleich sind – auch gleich belastet: Die Krankheit bricht aus.

Ein so gut dokumentiertes Inzucht-Sample wie die Habsburger gibt es kein zweites Mal. Ist der Beweis nun erbracht? Nicht ganz: Es besteht die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass sich die Gene nicht durch Selektion, sondern rein zufällig verändert haben, durch „Gendrift“, und es so zur dicken Lippe kam. Das sollen künftige Studien ausschließen. Vor den Folgen von Inzucht – von der Türkei bis Indien ist sie bis heute nicht selten – darf schon jetzt gewarnt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2019)

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