Buchbesprechung

Adeline Dieudonné: Das böse Lachen der Hyäne

In Adeline Dieudonnés Familiendrama zählt nur, was erlegt und an die Wand gehängt werden kann.
In Adeline Dieudonnés Familiendrama zählt nur, was erlegt und an die Wand gehängt werden kann. (c) Stéphane Remael
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„Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné schildert den Überlebenskampf eines beherzten jungen Mädchens im gefährlichsten Dschungel von allen – der Familie.

Literarisch ist 2020 bisher das Jahr der Frauen, unter anderem wegen der starken Stimmen junger französischsprachiger Autorinnen und ihrer Debütromane, etwa Inès Bayard („Scham“) oder Marion Messina („Fehlstart“). In diesen Chor stimmt nun auch die Belgierin Adeline Dieudonné mit ihrem Erstlingswerk ein: „Das wirkliche Leben“ erzählt vom Überlebenskampf eines jungen Mädchens im gefährlichsten Dschungel von allen – der Familie. Die Geschichte ist so packend, die Spannung so unheilvoll, die Heldin so entschlossen, dass man dieses Buch erst wieder aus der Hand legt, wenn man es fertig gelesen hat.

Dieudonnés namenlose Ich-Erzählerin lebt in einer Reihenhaussiedlung am Waldrand. So durchschnittlich ist die Gegend, dass sie nicht einmal einen Namen verdient, sondern nur die „Demo“ genannt wird – ein Feldversuch voller mehr oder weniger unglücklicher Bewohner. Zu den unglücklichsten zählt wohl die Familie im größten dieser Häuser, bestehend aus dem zu Beginn der Geschichte zehnjährigen Mädchen, dem sechsjährigen Bruder Gilles, Mutter und Vater.

Letzterer ist ein psychopathischer Tyrann mit einem Faible für die Jagd. Dieser „Koloss“ führt eine bizarre Ehe mit der „Amöbe“, an der er regelmäßig seinen Zorn auf die Welt auslässt. So empfindet das Mädchen die Eltern: den übermenschlich großen, bedrohlichen Vater und die Mutter, die vor lauter Angst versucht, unsichtbar zu werden. Ihre ganze Liebe und Fürsorge widmet sie ihren Tieren, die Kinder nimmt sie nur am Rand wahr.

Explosion im Eiswagen. Deshalb kümmert sich auch vor allem das Mädchen um den kleinen Bruder, der mit seinem zutraulichen Wesen und seinem „Milchzahnlächeln“ ihr Ein und Alles, ihr Trost und ihr Verbündeter ist. Bis vor den Augen der Kinder die Schlagobersflasche des Eisverkäufers explodiert und diesem das halbe Gesicht wegreißt. Der Schock traumatisiert Gilles, er beginnt sich zu verändern und mehr und mehr Zeit im Zimmer mit den Jagdtrophäen des Vaters zu verbringen. Vor allem die Hyäne hat es ihm angetan, in den Augen des Mädchens das Symbol alles Bösen, das das Gehirn ihres Bruders mit „Geschmeiß“ füllt. Wie sehr, sollen die folgenden Jahre zeigen.

Dieudonné erzählt ihre Geschichte auf kompakten 240 Seiten über einen Zeitraum von drei Jahren. Sie braucht nicht viele Worte, um den gefährlichen Abwärtsstrudel zu schildern, in den diese dysfunktionale Familie durch verschiedene Ereignisse immer tiefer hineingerissen wird: Gilles' Psychose verschlimmert sich, der Vater verliert seinen Job, die Mutter wird dadurch vollständig zum Boxsack, nur das Mädchen entwickelt sich in eine gänzlich andere Richtung. Zum einen zeigt sich bei ihr ein außerordentliches Talent für die Naturwissenschaften, das von einem charismatischen Lehrer gefördert wird; zum anderen tritt sie in die Pubertät ein, wird immer fraulicher, lernt die Liebe kennen.

All das wird ihr allerdings nicht gut bekommen, denn damit zieht sie die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich, sein Jagdinstinkt wird geweckt, er wittert Beute – im tatsächlichen Sinn. Nur dass dieses Mädchen nicht gewillt ist, das Schicksal ihrer Mutter zu teilen und zum Opfer zu werden.

Mit Preisen überhäuft. Die Belgierin Adeline Dieudonné (Jahrgang 1982) ist Schauspielerin, lebt mit ihren Kindern in Brüssel und hat mit Erzählungen und einem Ein-Personen-Stück auf sich aufmerksam gemacht. „Das wirkliche Leben“ schlug im französischsprachigen Raum ein wie eine Bombe. Der Roman gewann nicht weniger als 14 Literaturpreise. Unter deutschen Kritikern sind die Meinungen nicht ganz einhellig. Unter anderem wird bemängelt, dass es manchen Bruch in der Erzählung gebe und nicht alle Sprachbilder passten. Wer sich auf diese Geschichte wirklich einlässt, wird allerdings keine Zeit haben, nach Kleinigkeiten zu suchen, die der Lektor übersehen hat. Er wird viel zu sehr damit beschäftigt sein, dieser beherzten Heldin die Daumen zu drücken und zu hoffen, dass sie schneller ist als die Hyäne.

(c) dtv

Neu Erschienen

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Übersetzt von Sina de Malafosse, dtv

240 Seiten, 18,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2020)

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