Opernkritik

„Simon Boccanegra“: Der Opernalltag hat uns wieder

Unermüdlich: Plácido Domingo als Doge von Genua.
Unermüdlich: Plácido Domingo als Doge von Genua.Staatsoper/Michael Pöhn
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Plácido Domingo wird mehr für seine Lebensleistung als für seinen Dogen von Genua bejubelt; Günther Groissböck bietet ihm als neuer Fiesco die Stirn.

„Der große Mann ist ein öffentliches Unglück“: So lautet eine angebliche Weisheit des Konfuzius, die Thomas Mann in „Lotte in Weimar“ seinem Goethe in den Mund legt. Der Hofstaat des Dichterfürsten amüsiert sich über das kuriose Bonmot und widerspricht ihm dadurch pflichtschuldigst; einzig Charlotte spürt fröstelnd die auch auf Goethe zutreffende Wahrheit hinter diesen Worten. Plácido Domingo ist ein großer Mann der Oper. Er hätte sich für seine Leistungen als Tenor mit einem sicheren Platz in den Geschichtsbüchern zur Ruhe setzen können – aber Aufhören können ist eine Gabe, über die nicht jeder verfügt. Der schwindenden Höhe begegnete der Unermüdliche bekanntlich mit einem Wechsel ins Baritonfach. Der gebrochene Titelheld von Verdis „Simon Boccanegra“, der leidgeprüfte und schließlich an Gift dahinscheidende Dogen von Genua, er war Domingos Einstiegsdroge für seinen Karriereherbst. Er hat den Simone 2011 erstmals in Wien präsentiert und kehrte nun in dieser Rolle zurück – nach MeToo-Vorwürfen, die ihm außerhalb Europas das Wasser abgegraben haben, und noch dazu nach einer überstandenen Covid-19-Erkrankung.

Freilich, seine Disziplin beeindruckt nach wie vor, aber es gilt auch unvermindert das, was an dieser Stelle schon anlässlich seines Rollendebüts in Berlin 2009 zu lesen war: Sei der Wille auch noch so eisern, ein Tenor ist kein Bariton. Erstaunlicherweise geht Domingo das fortschreitende Alter aktuell mehr in die Beine als in die Stimmbänder: Der Schritt hat an Elastizität verloren. Sängerisch wirkte er dagegen sogar ausgeruht und weiß natürlich genau, wo er sparen kann und wann er auf dem Posten sein muss – beim innigen Ausruf „Figlia!“ oder in der Ratsszene, wo er zumindest bei der Wiederkehr der entscheidenden Phrase mit bronzener Standhaftigkeit überraschte. Doch kam es zwischendurch mehrfach zu genuschelten Passagen im Duett mit dem Souffleur, und am Ende des zweiten Aktes schwiegen er, Amelia und Adorno einander zum Kampfgetümmel hinter der Bühne verloren an und keiner wollte mehr seinen Einsatz finden. Domingo, der große Mann: Unglück ist er noch keines auf der Bühne, zumal er nach wie vor eindrucksvoll zusammenbrechen und sterben kann – aber Glück will sich auch nicht mehr so recht einstellen, dem Jubel der Fans zum Trotz.

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