Kritik

"The Sandman" auf Netflix: Ein Albtraum, der Augen stiehlt

(c) LIAM DANIEL/NETFLIX
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Als unverfilmbar galt die Graphic Novel „The Sandman“ von Neil Gaiman. Netflix machte daraus eine Serie − und fesselt mit dichten, langsam erzählten Geschichten.

Mit dem ostdeutschen, kinderfreundlichen Sandmännchen hat „The Sandman“ auf Netflix wenig zu tun. Mit E. T. A. Hoffmanns Schreckensgestalt ein wenig mehr: Lord Morpheus, Dream, Sandman oder Dream of the Endless, wie er genannt wird, ist eine ambivalente Figur. Er ist König über das Reich der Träume, der schönen wie der schrecklichen. Einer seiner Albträume ist ihm entflohen in die Welt der Menschen. Dieser Albtraum namens Korinther (genussvoll diabolisch: Boyd Holbrook) tut das, was Hoffmann seinem Sandmann zuschrieb und was Freud faszinierte: Er reißt Augen aus (hier zumindest nicht von Kindern).

Als der Sandmann seine Schöpfung wieder einfangen will, gerät er selbst in Gefangenschaft: Ein englischer Okkultist (noch genussvoller diabolisch: Charles Dance) hält ihn in einer Glaskugel im Keller seines Herrenhauses fest. Erst nach 100 Jahren vermag der Sandmann auszubrechen. Fortan muss er seine Macht zurückerobern – und seine drei wichtigsten Werkzeuge, von den Menschen entwendet, wieder in seinen Besitz bringen: ein Säckchen Sand, einen totenkopfähnlichen Helm und ein Rubin-Amulett, das Träume wahr werden lassen kann.

Diese Rückholung bildet anfänglich das Gerüst der zehnteiligen Netflix-Serie. In den einzelnen Folgen gibt es viel Spielraum, sie sind wie kleine, lose zusammenhängende Filme gestaltet. Zehn dichte Geschichten, betont langsam und nachdenklich erzählt und exzellent besetzt bis in die Nebenrollen. David Thewlis (Lupin in „Harry Potter“) brilliert als Sohn jenes Mannes, der den Sandmann einst fing. Stoisch-düster legte der schmalgesichtige Brite Tom Sturridge die Titelrolle an. Er hat etwas, das den Beschützerinstinkt weckt, und sieht aus, als könnte er bei The Cure mitspielen. Die Graphic-Novel-Vorlage, eine 2000 Seiten starke Reihe von Neil Gaiman, erschien zwischen 1989 und 1996. Mehr als dreißig Jahre dauerte es bis zur Adaption, die schon für 1991 angedacht war.

Perfekter Zeitpunkt für diese Serie

Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können: „The Sandman“ ist in der Ära des Seriellen, das sich für einen so ausufernden Plot besser eignet, und der Millionenbudgets für Fantasyserien und -filme gelandet.
Gaiman selbst hat sich an der Produktion beteiligt. Neben ihm sind Allan Heinberg (Drehbuch zu „Wonder Woman“) und David S. Goyer („Batman Begins“) federführend verantwortlich.

Mehrere Vorlagen Gaimans wurden bereits verfilmt: mit mittlerem Erfolg „American Gods“, mit größerem der glattere „Lucifer“ (beide Amazon). Wie dort ist auch „The Sandman“ mythologisch aufgeladen und religiös durchdrungen. Morpheus' Schwestern heißen Schicksal, Sehnsucht und Tod – und einmal besucht er Luzifer (Gwendoline Christie aus „Game of Thrones“). Dass die Figuren trotzdem nicht typenhaft wirken, ist ein kleines Kunststück. Mehr noch: Sie erwecken den Eindruck, dass die Geschichte tief verwurzelt ist in Historie und Mythologie – auch in Hoffmanns „Sandmann“. Denn: Wenn der Korinther ein Traum des Morpheus ist, ist dann nicht doch der Sandmann der eigentliche Augen-Dieb? Was würde Freud dazu sagen?

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