Krankheit: „Der Mensch ist auf Hoffnung angelegt“

(c) AP
  • Drucken

Die Diagnose Krebs trifft jedes Jahr rund 240 Kinder in Österreich. Dann sind starke Eltern gefragt. Die meisten Mütter und Väter schaffen es, sich in einem schwierigen neuen Alltag zurechtzufinden.

Die Erinnerung ist ein wählerischer Kumpan. Für Eva Morent hat sie aus der schwärzesten Zeit ihres Lebens ausgerechnet den Blick aus dem Fenster eines fahrenden Rettungsautos ausgesucht: die Scheiben halb verklebt, darüber der Blick auf Geschäfte, Kinder, Schulen, Spielplätze – all die Dinge, die einst ganz selbstverständlich zum Leben der Familie Morent gezählt hatten. Bis das Schicksal im Jahr 2003 die Pausetaste drückte.

In diesem Jahr wurde bei Eva Morents Tochter (damals viereinhalb) Leukämie festgestellt. Die Familie durchlief alle Etappen des Leidenswegs, der mit solch einer Diagnose beginnt: lange Perioden im Krankenhaus, Schmerzen, unerträgliche Behandlungen, Warten, Zittern, Besserung, Hoffnung, erste Besuche zu Hause, Rückschläge, Entlassung, immer wieder die Fahrt in die Tagesklinik, die Angst vor jeder Nachuntersuchung und schließlich die Heilung. Heute ist das Mädchen neun Jahre alt und gesund.

Gegenseitige Unterstützung

Seine Mutter aber geht noch immer regelmäßig ins St. Anna Kinderspital – mittlerweile als Vertreterin der Kinder-Krebs-Hilfe. Eva Morent will etwas von dem zurückgeben, was ihr geholfen hat, gemeinsam mit ihrer Tochter den Krebs zu überstehen: die Unterstützung durch andere betroffene Eltern. Denn kaum jemand ist in solch einer Situation ein glaubwürdigerer oder hilfreicherer Ansprechpartner als Mütter und Väter, die diesen schweren Weg bereits gegangen sind. „Es ist gut, wenn man für psychologische Hilfe offen ist. Aber wenn man jemandem gegenübersitzt, von dem man weiß, dass er zwei gesunde Kinder zu Hause hat, kann das schwierig sein“, meint Morent.

Erkrankt ein Kind an Krebs, ist ganz klar, dass der kleine Patient im Mittelpunkt steht. Im St. Anna Kinderspital in Wien hat man jedoch gelernt, dass man sich um die ganze Familie kümmern muss – und in erster Linie um die Mutter, die laut Reinhard Topf, Leiter des Psychosozialen Dienstes im St.Anna, die „Leibärztin“ des Kindes ist und in den meisten Fällen den Großteil des Spitalsdienstes übernimmt. Bricht die Mutter zusammen, reißt sie das Kind mit. Bringt es die Mutter fertig, ihre Persönlichkeit zu „spalten“, die Sorge ins Abseits zu schieben und in Richtung ihres Kindes möglichst viel Normalität und Positivität auszustrahlen, profitieren alle Beteiligten davon.

Und erstaunlich viele schaffen es, nach dem ersten Schock der Diagnose „in eine Welt hineinzuwachsen, von der man sich am Anfang denkt, man kann das nie“, sagt Topf. Den meisten Eltern gelinge das innerhalb einiger Wochen. Wobei viele in periodischen Abständen Schwierigkeiten mit einer Situation haben, die sie als absurd empfinden: „Wie kann's das geben? Mein Kind hat eine lebensbedrohliche Krankheit, und ich sitze hier, lache und trinke Kaffee mit den anderen Eltern?“, hört Topf immer wieder. Für ihn symbolisiert dieses Phänomen allerdings etwas anderes: „Der Mensch ist auf Hoffnung angelegt“, sagt er. „Wenn die Hoffnung da ist, dann greift sie rasch.“

Routine als Überlebensfrage

Ein möglichst „alltägliches“ Verhalten kann in einer solchen Situation für Eltern und Kinder zu einer Überlebensfrage werden, „ein Gerüst, an dem man sich anhalten kann“ (Morent). Denn hier müssen Tagesabläufe strukturiert und gestaltet werden, an denen kaum etwas angenehm ist; muss das Kind durch Behandlungen begleitet werden, die den daneben stehenden Eltern das Herz brechen. Die Mutter muss lernen, Medikamente zu verabreichen, Infusionen zu beobachten. Damit bekommt sie eine sinnvolle Aufgabe, kann etwas zur Behandlung ihres Kindes beitragen. „Man ist gleichzeitig Mutter und Krankenschwester – und das alles im Ausnahmezustand“, beschreibt Morent diese Herausforderung.

Ein anderes Problem ist die Langeweile des oft endlosen Spitalsaufenthalts. Für kleinere Kinder kann Letzteres leichter sein als für jugendliche Patienten. „Das sind wirklich die Ärmsten“, sagt Morent. „Sie sind gerade dabei, sich abzunabeln und selbstständig zu werden, und dann sitzen sie im Spital fest, können nirgends hin und wegen der Ansteckungsgefahr oft auch niemanden sehen.“ Die Kinder-Krebs-Hilfe Elterninitiative finanziert u. a. Kunst-, Mal- und Musiktherapie, Kindergärtnerinnen, Schulunterricht, Laptops am Krankenbett sowie den Europäischen Computerführerschein.

Natürlich hat die Solidarität unter den betroffenen Eltern auch ihre Grenzen: „Letzten Endes sitzt jeder in seinem eigenen Boot, jede Diagnose bedeutet etwas anderes für ein Kind“, sagt Reinhard Topf.

Freundschaften fürs Leben

Der Zusammenhalt in dieser kleinen Welt bleibt aber essenziell, weil viele Eltern und Kinder mit dem Gefühl kämpfen, zu „denen da draußen“ nicht mehr dazuzugehören, und mitunter auch Aggressionen gegen alle Gesunden entwickeln. Der „Dorfplatz“ St. Anna (Reinhard Topf) gibt da Sicherheit: Mit Einschränkungen versteht jeder die Situation des anderen, auch wenn alle unterschiedlich damit umgehen. Man hilft sich gegenseitig, man kann sich ausweinen, man kann trösten, man kann sich gemeinsam freuen. „Hier werden Freundschaften fürs Leben geschlossen“, meint Topf. „Und die bestehen manchmal über Generationen weiter.“


[Illustration: Bandilli; Quelle: Hannah, Du schaffst es!“: Morent-Gran]

AUF EINEN BLICK

Rund 240 Kinder erkranken in Österreich jedes Jahr an Krebs. Ein Drittel davon bekommt Leukämie (Blutkrebs), die in 80 Prozent der Fälle gänzlich heilbar ist.

Die Kinder-Krebs-Hilfe Elterninitiative wurde 1986 von Betroffenen gegründet und arbeitet eng mit dem St.Anna Kinderspital und der AKH Kinderklinik zusammen. Sie hilft Eltern bei organisatorischen Fragen, bietet Gesprächsrunden an und finanziert (großteils über Spenden) viele Aktivitäten in den Spitälern.

Am Samstag, 8. November, liegt der Ausgabe der „Presse“ in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ein Spendenerlagschein für die Kinder-Krebs-Hilfe bei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.