Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa

Gäste auf Dauer. Eindrucksvolle Reportagen über Menschen auf der Flucht, nach und in Europa: Corinna Milborns "Schwarzbuch2 über die "Gestürmte Festung Europa".

Ceuta und Melilla, Lampedusa, die algerischen Todeslager, Almer­a, die Bouches du Rh´ne, Mon treuil-sous-Bois im Osten von Paris, Traiskirchen, North-East London . . . Es ist kein Schwarzbuch, wie es der Untertitel verheißt; Corinna Milborns "Gestürmte Festung Europa" ist ein Buch der Reportagen: Berichte von den Grenzen Europas, wo sich die Verzweifelten an den Stacheldrahtbarrieren die Arme zerschneiden, wo sie von nordafrikanischen Polizeikräften mitten in der Wüste zum Verdursten ausgesetzt werden, wo das Mittelmeer zum Massengrab wird. Berichte von den Flüchtlingslagern in Europa, wo jene, die es bis hierher geschafft haben, nach legalen und illegalen Regeln schikaniert werden und wo Familien getrennt und nicht zusammengeführt werden. Berichte aus den spanischen Slums, wo sich jene Illegalen scharen, die man für die landwirtschaftliche Billigproduktion benötigt, jene, die ungeschützt im Nebel der Pestizide gegen niedrigste Löhne werken - und manchmal auch gar nicht bezahlt werden. Berichte aus den suburbanen Ghettos von Paris und aus den islamischen Vierteln Londons, wo jene Radikalen gezüchtet werden, die sagen, man befinde sich im Krieg.

Zunächst zielt das Buch auf moralische Entrüstung: Wir sind reich, die anderen arm; lasset sie alle zu uns kommen. Keine "Festung Europa". Mit dem Zusatzargument: Wir brauchen angesichts der demografischen Entwicklung ohnehin mehr Einwanderer. Und mit dem etwas naiven Hinweis: Illegale Einreise sei nur eine kleine Verwaltungsübertretung, da dürfte man eigentlich niemanden in Haft nehmen. Natürlich wird die wirtschaftliche Stärke Europas überschätzt. Tatsache ist: Die europäischen Völker wollen ihren Reichtum lieber behalten, als ihn mit allen Verzweifelten dieser Erde zu teilen und dadurch selbst der Verarmung anheim zu fallen. Das mag nicht das sein, was die reine Tugend gebietet, aber man wird es den Europäern auch nicht verargen können.

Die eindrucksvollen Berichte schildern jedoch Beschämendes. Erstens die Heuchelei der Reichen: Dort, wo sich die Ausbeutung der Elenden und ihrer Schwarzarbeit lohnt, drückt man auch einmal ein Auge zu. Zweitens berührt gierige Brutalität im Einzelfall: Wenn eine Legalisierungsaktion Illegaler den Vorweis eines mehrmonatigen Arbeitsvertrags voraussetzt, nützen Unternehmer die Chance, von denen, die darauf angewiesen sind, gleich noch einmal ein paar Tausender für den Vertragsabschluss zu kassieren. Drittens irritiert die häufige, fast systematische Verletzung aller rechtsstaatlichen Grundsätze: Fremdenpolitik als Mischung aus Schlamperei, Unfähigkeit, Aversion und Sadismus.

Es zeigt sich, dass Corinna Milborn die Anekdoten mit einer Analyse unterlegen und dass sie mit Ambivalenzen umgehen kann. Sie vermerkt etwa, dass gerade die Linke ihren Respekt vor dem Fremden häufig so interpretiert, dass Missstände innerhalb anderer Religionen und Kulturen - etwa die Unterdrückung und Misshandlung der ausländischen Frauen - heruntergespielt werden; während von den Rechten solche Fälle ohnehin instrumentalisiert werden, um pauschal Stimmung gegen Fremde zu machen. Vor allem aber beschreibt sie jene Prozesse der Polarisierung, die auf beiden Seiten denen nützen, die gegen eine gemischte, friedliche Gesellschaft sind. Das Modell der Multikulturalisierung - jedem seine eigene Gruppe und Lebenswelt - ist in den Niederlanden und in Großbritannien gescheitert: Es hat zu Ghettos geführt. Das französische Modell der Assimilierung auf der Grundlage eines laizistischen Republikanismus ist am faktischen Ausschluss der Fremden gescheitert: Das treibt die dritte Generation auf die Barrikaden. Das Gastarbeitermodell Österreichs und Deutschlands ist gescheitert, weil viele Menschen zu Dauergästen geworden sind: Die Fremden stoßen auf geschlossene Türen, werden aber für mangelnde Integration selbst verantwortlich gemacht.

Triste Zukunftsvision: Spaltung der europäischen Gesellschaften; feindselige Polarisierung zwischen Inländern und Ausländern; soziale Einigelung und religiöse Fundamentalisierung der Ausländer. Natürlich stimmt es, dass die Integrationsunwilligkeit der Fremden europaweit zunimmt. Amerika hat ähnliche Probleme mit den Schwarzen, weil es seine Vergangenheit als Sklavenhaltergesellschaft bis heute nicht bewältigt hat; aber Menschen anderer Ethnien und Kulturen finden jenseits des Atlantiks bessere Integrationschancen. Diskriminierung und gegenkulturelle Abschottung bedingen einander, in wechselseitiger Eskalation. Corinna Milborns Schlussfolgerung: Anpassung an europäische Grundwerte - Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - müsse man verlangen, sonst leiste man der Bildung von Ghettos Vorschub.

Aber Europa leide daran, dass es selbst keinen Konsens über diese Grundwerte erzielen könne, und deshalb zögere es, sie Zuwanderern aufzuzwingen. Damit wird der Kern des Problems berührt: nicht nur Europas eigene Identitätskrise, sondern auch der Mangel eines kraftvollen, attraktiven "europäischen Traums", den es in einer Gesellschaft gleicher Chancen anzustreben gilt.

Am 20. Juni wird Corinna Milborn in der Thalia Buchhandlung, Wien III, Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, um 19 Uhr mit Anton Pelinka, Marc Fähndrich (stv. Leiter der österr. EU-Kommission) und Petra Ziegler (Attac-Österreich) zum Thema "Österreichs EU-Vorsitz - alles nur Show?" diskutieren.

Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto - Das Schwarzbuch. 248 S., geb., € 19,90 (Styria Verlag, Graz)

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