Wie fiktiv darf ein Leben sein?

Eine genaue Lektüre von Conny Hannes Meyers "Aufzeichnungen einer Kindheit" zeigt: So, wie er es heute erzählt, kann Meyer Mauthausen nicht erlebt haben. Bleibt die Frage, ob Meyer je in Mauthausen war.

Als 1995 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp Erinnerungen eines gewissen Binjamin Wilkomirski erschienen, stießen diese auf großes Interesse. Der Autor wurde mit Preisen für diese "besten Zeugnisse" der Erinnerungsliteratur überhäuft. Als drei Jahre später diese Darstellung durch den Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried in der "Weltwoche" als Fälschung entlarvt wurde und Wilkomirski plötzlich zu einem 1941 in der Schweiz geborenen Bruno Grosjean mutierte, der seine - durchaus schwere - Kindheit auch dort verbracht hatte, schlug dieser Fall nicht zuletzt deswegen große Wellen, weil damit die Zeugenschaft der Überlebenden in Frage gestellt war. Die große Hoffnung, über die Erinnerung der Überlebenden etwas von dem zu verstehen, was sich in geschichtswissenschaftlichen Termini nur unzureichend darstellen lässt, war einigermaßen erschüttert.

Sehr bald rückte die Frage in den Mittelpunkt, warum Menschen sich in die Rolle der jüdischen Opfer begeben. Deutlich wurde, dass es sich bei Wilkomirski um keinen Einzelfall handelt und dass dieser Fall ohne ein Umfeld aus Personen, die ihn beim Hineinschlüpfen in diese Biografie begleiteten, und die Nachfrage des Verlages nach authentischen Berichten nicht erklärbar war. Deutlich wurde aber auch, was in der Biografieforschung Commonsense ist, dass jede erzählte Biografie - auch die der Überlebenden - aus der Gegenwart konstruiert ist und nicht einfach als Abbild der Realität genommen werden kann.

Vor etwa einem Monat kontaktierte mich die Schriftstellerin Claudia Erdheim mit der Bitte, ihr als Historiker einige Fragen zum KZ Mauthausen in Zusammenhang mit der eben im Molden Verlag erschienenen Autobiografie des bekannten Wiener Theaterregisseurs Conny Hannes Meyer zu beantworten. Meyer handelt darin vor allem seine Kindheit im KZ Mauthausen ab. Erdheim waren beim Lesen der Autobiografie etliche Ungereimtheiten aufgefallen, die sie daran zweifeln ließen, ob Meyer je in Mauthausen war. So will Meyer als Häftling nicht registriert, gleichzeitig aber mehrere Jahre in verschiedensten Arbeitskommandos des Lagers gewesen sein, was der Lagerrealität völlig widerspricht. Früherer Äußerungen Meyers, in denen von einem KZ-Aufenthalt keine Rede war, bestärkten Erdheim in der Ansicht, es hier mit einer fiktiven Autobiografie zu tun zu haben.

Meine erste Reaktion war trotz der eklatanten Widersprüche, an Meyers grundsätzlicher Aussage, als Häftling in Mauthausen gewesen zu sein, nicht zu zweifeln. Kann man von in der Kindheit traumatisierten Menschen erwarten, dass sie einen autobiografischen Text verfassen, in dem keine erheblichen Differenzen zwischen Erlebtem und Erzähltem zu finden sind? Ich selbst habe Conny Hannes Meyer 1993 in einem Aufsatz über Kinder und Jugendliche in Mauthausen als Zeitzeugen zitiert. Das Zitat hatte ich einer Publikation des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) über "Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten" (1992) entnommen, und es schien mir besonders zutreffend.

"Es war alles eine derartige Aufregung, ein Wirbel, das weiß ich noch so bruchstückhaft. Wenn ich mich jetzt bemühe und da lange darüber nachdenke, werden mir wahrscheinlich Einzelheiten einfallen, wahrscheinlich würde ich da so Bilder bekommen, was da war. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich das ungern tue und auch nicht getan habe, weil mich das eigentlich stört. Ich kann dann nimmermehr arbeiten, es ist besser, ich lasse das, wie es war, also - weg." Gerade diese Weigerung, allzu viel über seine Kindheit in Mauthausen zu sagen, schien mir besonders glaubwürdig zu sein. Offensichtlich war das gesamte Interview so beschaffen, dass dem DÖW keine Zweifel an der Darstellung kamen.

Die deutsche Soziologin Gabriele Rosenthal bemerkte im Kontext der Wilkomirski-Debatte zu ihren Interviews mit Tätern und Opfern, dass ihre besondere Aufmerksamkeit, was Reinterpretationen und Verfälschungen betrifft, bei Täterinterviews gegeben war. Bei Holocaust-Überlebenden hätte sie diese "methodischen Zweifel" nicht von vornherein gehabt und erst sukzessive entwickelt. Rosenthal liefert dafür auch gleich eine Erklärung. Nicht zuletzt die Angst, bei traumatisierten Personen durch den Zweifel an ihrer Darstellung eine sekundäre Traumatisierung zu befördern, ließen jeden Zweifel zunächst "außen vor". Die Randbemerkung, dass ihre Vorgangsweise wohl "nicht atypisch für eine nicht-jüdische Deutsche" sei, verweist auf die vielleicht grundlegendere Erklärung, sich als Angehörige einer deutschen "Tätergesellschaft" nicht berechtigt zu fühlen, die Berichte von Opfern demselben "methodischen Zweifel" auszusetzen - was Rosenthal dann letztlich sehr wohl und sehr produktiv getan hat. Um die Konstruktionsprinzipien erzählter Geschichte zu verstehen, analysiert Rosenthal sowohl die erlebte wie die erzählte Geschichte in einer strengen methodischen Vorgangsweise. - Uns stehen hier unterschiedliche autobiografische Erzählungen von Meyer zur Verfügung, die voneinander, auch dort, wo eine KZ-Haft in Mauthausen angeführt wird, allerdings erheblich abweichen. Waren Meyers Erinnerungen im Interview durch das DÖW noch bruchstückhaft, so wird in seiner nun vorliegenden Autobiografie alles glasklar und bis auf die exakten Namen und Vornamen von SS-Angehörigen erinnert.

So detailreich die Schilderung nun ist, so sehr sind die zeitlichen Abfolgen, die topografischen Beschreibungen wie die erzählten Erlebnisse in sich wie zueinander widersprüchlich: Der Versuch, irgendwo Übereinstimmung mit dem historisch gesicherten Wissen über Mauthausen zu finden, gelingt kaum.

Dies lässt sich an wenigen herausgegriffenen Beispielen zeigen, etwa wenn sich Meyer nun als Zeuge entscheidender Vorgänge in Mauthausen präsentiert, man denke an das Essen der SS-Führer für "Gäste aus Erfurt", bei dem er zum Tischdienst eingeteilt ist: "Diesmal sind es Ingenieure, die im Lager Gusen den Bau eines neuen Krematoriums leiten sollen. Beim Essen reden sie andauernd von irgendwelchen ,Kapazitäten', bis ich endlich kapiere, dass es sich um das Fassungsvermögen von Öfen handelt, in denen die Toten eingeäschert werden sollen. Die Rede ist von den drei Öfen, die bis zu 6000 Leichen ,verarbeiten' müssten. 1942 sollen es sechseinhalbtausend gewesen sein, das würde in Zukunft aber nicht reichen. Das Krematorium der Stadt Steyr könne die anfallende Kapazität an Einzuäschernden nicht mehr bewältigen, und die bislang genutzten Anlagen in den Nebenlagern Melk, Ebensee und Schloss Hartheim seien schon lange überlastet."

Sieht man von der realitätsfremden Darstellung einmal ab, dass ein nicht registrierter jugendlicher Häftling bei einem wichtigen Geschäftsessen der SS serviert, so ist festzuhalten, dass das diskutierte Krematorium in Gusen in Wirklichkeit schon im Jänner 1941 bestand, die keineswegs "überlasteten" Krematorien in Melk und Ebensee aber erst 1944. Dass ein servierender Häftling wissen konnte, aus welcher Stadt die "Gäste" kamen, ist alles andere als plausibel. Irgendwie muss das auch Meyer beim Schreiben gedämmert sein, denn zumindest den Namen der Ofenbaufirma Topf & Söhne lässt er unerwähnt. Vielleicht ist es reiner Zufall, dass seit 2005 in Erfurt eine Ausstellung über die Firma "Topf & Söhne - Die Ofenbauer von Auschwitz" mit dem Übertitel "Techniker der ,Endlösung'" besichtigt werden kann, über die ausführlich in den Medien berichtet wurde?

Ein weiteres Charakteristikum der Darstellung von Meyer ist sein Rückgriff auf Ikonen der Vernichtung. So berichtet Meyer in längeren und sich mehrfach wiederholenden Passagen von der Effektenkammer des KZs Mauthausen, in dem die wenigen Habseligkeiten der in das KZ eingewiesenen Personen verwahrt wurden. Meyer beschreibt aber uns bekannte Bilder des Effektenlagers in Auschwitz-Birkenau, mit den aus den Baracken überquellenden mitgebrachten Habseligkeiten der deportierten jüdischen Familien, die dort sortiert und verwertet wurden.

"Kaum drinnen, stehe ich mit offenem Maul. In nebelhaftem Halbdunkel nehme ich, erst nur ganz verschwommen, dann zunehmend deutlicher, ein Gebirge von Gegenständen wahr." Meyer schließt eine ganze Seite der Beschreibung von Gegenständen wie Gießkannen, Besen, Zierwaffen, Wanduhren, Pelzmänteln, Damenhüten, Zahnputzbechern, Bartbinden, Tennisschlägern an. Da Mauthausen kein Zielort derartiger Deportationszüge war, gab es dort aber kein den Vernichtungslagern im Osten vergleichbares Effektenlager.

In anderen Passagen gewinnt man den Eindruck, Meyer beschreibt bekannte Mauthausen-Fotografien - wie jene, die eine Gruppe offensichtlich gerade in Mauthausen eingetroffener sowjetischer Kriegsgefangener zeigt, vor der die aus Häftlingen gebildete "Lagerpolizei" in ihrer Pseudouniform paradiert. Bei Meyer wird das Bild zu einer theaterreifen Szene, wobei er, der angeblich bei der Befreiung nicht mehr richtig Deutsch sprechen konnte, nun Dialekte zu unterscheiden weiß und auch noch zum Uniformexperten avanciert. "Eine endlos scheinende Reihe sichtlich eben erst angekommener Sowjets steht da in unsagbar verschmutzten Militärmänteln. (. . .) Das wüste Gebrüll noch nie gesehener, seltsam komisch uniformierter Typen lassen sie unbewegt, stoisch über sich ergehen. Da springen und zappeln nämlich einige, in alte Uniformen der k. u. k. Armee oder auch solche aus der deutschen, wilhelminischen Epoche übergebliebene gewandet, mit weißen Spitzhelmen und langen Schleppsäbeln an der Hüfte, vor ihnen auf und ab, schreien irgendetwas auf Plattdeutsch und Tirolerisch, was andere, ebenso zappelnd und hüpfend und genau so schreiend wie ihre Vorbrüller, ins Russische übersetzen . . ."

Festhalten lässt sich, dass Meyer Mauthausen so nicht erlebt haben kann, wie er es heute erzählt. Mittlerweile hat er den Anspruch auf "Authentizität der Zeit, des Ortes und der Fakten" selbst relativiert. Bleibt die Frage, ob Meyer je in Mauthausen war. Das Buch bietet für die Klärung dieser Frage keine Anhaltspunkte. Der Hinweis seines langjährigen Bekannten Otto Lakmaier, dass Meyer die Inszenierung in sein Leben hineinzieht, zum Zwecke, etwas vorzustellen, und dass diese Elemente irgendwann nicht mehr von seinem eigenen Leben zu trennen sind, lässt vermuten, dass Meyer allmählich in eine fiktive Biografie geschlüpft ist.

Man fühlt sich an Wilkomirski und dessen traumatische Kindheitserfahrung erinnert. Dieser hatte wie Meyer, wenn wir ihm in diesem Punkt folgen, Jahre seiner Kindheit im Heim verbracht. Die eigentliche Parallele zum Fall Wilkomirski scheint jedoch in der Rolle des Verlags zu liegen. Der Molden Verlag hat keinerlei am Text ablesbare Schritte unternommen, Meyers Erinnerungen auf ihren Realitätsgehalt zu prüfen. Der Verdacht, der schon gegenüber dem Jüdischen Verlag bei Suhrkamp geäußert wurde, drängt sich auf: dem Interesse an "authentischen" Überlebendenberichten Fragen nach der Glaubwürdigkeit untergeordnet zu haben.

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