Wie wird man Arier?

Ich bin Enkel eines Juden und Sohn einer Halbjüdin. "Judenstämmling" also, wie man das in der Nazizeit nannte. Die meisten Freunde meiner Eltern haben nicht überlebt. Aber wir taten es.

Fast wäre ich ein Hitlerjunge Salo mon geworden. Aber nur fast. Ein Alzerl hat mir gefehlt. Der schwar ze Punkt war da, aber es war nur einer. Deshalb hat es nicht für ein Buch gereicht - so wie das gleichnamige, das einer schrieb, der als Jude in der "Nationalpolitischen Erziehungsanstalt" war. In der Napola. Die Geschichte ist verfilmt worden. Bei meiner zahlt es sich nicht aus.

Doch schön der Reihe nach. Da hat also Günter Grass, gleichsam Poeta laureatus der deutschen Post-Kriegs-Nation, ein spätes Bekenntnis abgelegt. Er ist bei der Waffen-SS gewesen, fast noch als Halbwüchsiger. Er hat sich relativ kurz vor Kriegsende freiwillig zur U-Boot-Waffe gemeldet (oder was davon noch übrig geblieben war) und ist, ohne dass er gefragt wurde, zur sattsam bekannten SS-Einheit überstellt worden.

Es ist darüber - vor allem über sein spätes Geständnis - genug geschrieben worden. Es ist auch genug über Kurt Waldheim zu lesen gewesen und seine Gedächtnislücken. Dennoch liegt es mir ferner als fern, Parallelen zu ziehen zwischen meinen Erinnerungen und jenen der Genannten - vor allem deswegen, weil die Dinge eben doch ganz anders lagen. Und weil ich keinen Grund gesehen habe, mich nachher zu berühmen; mich zu beknirschen, hatte ich noch weniger Anlass.

Nochmals: schön der Reihe nach. Ich wä- re, sagte ich, fast ein "Hitlerjunge Salomon" geworden. Als Enkel eines Juden ("Volljude", sagte man damals) und Sohn einer Halbjüdin. Ich war das, was man zwischen 1938 und 1945 "Mischling zweiten Grades" nannte. Mein Großvater ist (zum Glück, wie man heute sagen muss) anno 1936 gestorben. Die meisten Freunde meiner Eltern haben nicht überlebt. Aber wir taten es. Mit Ablaufdatum, wie nach dem Krieg berichtet wurde.

Trotzdem, und das ist das eigentliche Thema dieser Geschichte, war ich bei der Rundfunkspielschar des deutschen Jungvolks. Des "Banns Südost-Wien", um genau zu sein. Ich war "Judenstämmling" und dennoch Pimpf. Möglicherweise war ich der einzige solche in der Ostmark.

Ich war also bei der Rundfunkspielschar. Niemand hat gewusst, welcher "Abstammung" ich gewesen bin - damals. Und meine Eltern haben es vor mir geheim gehalten. Aus Sorge, vielleicht auch aus Angst. Ich sollte sein wie alle "Deutschstämmigen", wie alle "Arier". Nur nicht auffallen! Meine Mutter hat in ihrem Taufschein sogar den Vornamen ihres Großvaters, der Nathan hieß, kunstvoll auf "Matthäus" ausgebessert. Sie war immer schon kunstfertig, meine Mutter.

Dass ihr Vater, der Jude, ein "Großdeutscher" war, wie man es nach dem Ersten Weltkrieg nannte, und oft mit der blauen Kornblume im Knopfloch spazierte, hat sie mir viel später erzählt. Dass ein Onkel als Legitimist nach Dachau kam (und nie wieder zurück), hörte ich freilich schon als Kind. Aber Politik, nicht wahr, die war für den Sechsjährigen uninteressant. Er stand mit den Eltern - und, notabene, zusammen mit einem ihrer Freunde, einem jüdischen Zahnarzt namens Reisberg - auf dem Balkon von dessen Wohnhaus, das gegenüber der Oper am Ring gelegen war. Und der Bub, der Judenstämmling, sah das tausendköpfige Spalier und dann einen Mann in brauner Uniform, der aufrecht in einem großen Auto stand und die rechte Hand gehoben hatte. Und die Menschen jubelten.

Der Arzt ist dann umgebracht worden, seine Frau hat überlebt. Aber das wusste ich alles nicht - damals. Ich wusste auch nicht, warum mich meine Mutter immer in die erste Reihe stellte, wenn nach dem 13. März 1938 Aufmärsche waren. Es waren viele, und sie haben mir alle gut gefallen. Ich wusste ja auch nicht, dass mein Vater von Freunden, die rechtzeitig auswandern konnten, aufgefordert worden war, das Gleiche zu tun - nach England, nach Australien gar. Man hat mir damals nicht gesagt, dass er sich geweigert hatte; "Es wird ja nicht so arg werden!". Nochmals: Das war im März 1938. Im April wurde ich, weil meine Mutter um "Altersdispens" angesucht hatte, als Fünfeinhalbjähriger im Stadtschulrat geprüft. Ich konnte alle Fragen beantworten, nur eine nicht: "Wie grüßt man den Führer?" Ich sagte das, was ich vom brüllenden Spalier gehört hatte: "Heil!" Es war falsch. "Heil Hitler!", rief rügend der Prüfer. Er wusste nicht, dass er ein Kind vor sich hatte, das nicht "deutschblütig" war, und genehmigte den vorzeitigen Schuleintritt. - Dass mir vor allem der Volksschullehrer im Gedächtnis blieb, der am ersten Schultag in SA-Uniform am Katheder saß, tut eigentlich nichts zur Sache. Ich empfand es fast als selbstverständlich. Dass er, wie ich daheim flüstern hörte, ein "Illegaler" gewesen war, der sich nun "outen" durfte, verstand ich nicht. Was war denn ein "Illegaler"? Ich wagte nicht zu fragen, weil ich ohnehin nur zur Antwort bekommen hätte, dass ich das eben "nicht verstehe".

Wohl aber habe ich verstanden, dass mir meine Mutter ein kleines Hakenkreuz kaufte, das ich auf der Joppe tragen sollte. Erst im dritten Geschäft war ein solches Abzeichen zu haben. Anderswo waren Hakenkreuze ausverkauft. Meiner Mutter hat man damals ein Parteiabzeichen angetragen, sie nahm es nicht.

Ich war jedenfalls, wie es schien, ein guter Volksschüler. Ein Klassenfoto (es muss wohl in der Dritten gewesen sein) zeigt mich in der ersten Reihe, im Hintergrund des Bildes eine große Hakenkreuzfahne. Ich war so "musterhaft", dass ich - jawohl, fast wie der erwähnte Hitlerjunge Salomon - sogar für die Napola ausersehen war. Ein Herr in dunkelbraunem Uniformrock und schwarzer Hose hat die Schule besucht und einige vom Lehrer genannte Buben mit sich genommen - in ein anderes Klassenzimmer. Und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Er erklärte uns, dass wir Nachwuchs werden könnten für die Partei, stellte einige Fra-gen und führte uns dann in den Turnsaal. Dort mussten wir zeigen, ob wir körperlich fit seien. Ich war es nicht. Im Beschreibungsbogen, der dann ausgefüllt wurde, stand kurz und bündig, ich sei zwar geistig durchaus geeignet für die Napola, aber: "Zu schwammig!" Ich kann also sagen: Ich bin nicht dabei gewesen. Zum Glück für meine Mutter, die von diesem Examen überhaupt nichts geahnt hatte. Ich aber war, glaube ich, enttäuscht. Was wäre ge- wesen, wenn? Und dann: Plakate, auf denen die Zehnjährigen aufgefordert wurden, sich zur DJ anzumelden. Aufforderung hieß Zwang. Aber ich fügte mich gerne. Ich konnte kaum warten, mit jenen Gleichaltrigen zu marschieren, die in braunen Hemden und schwarzen Hosen und mit einem "Überschwung" - so nannte man damals den Schulterriemen - Lieder sangen. Ich hätte so gerne, so gerne auch einen Dolch gehabt, wie ihn die Älteren trugen.

Und nie hatte ich das Gefühl, dass man auch aus Angst "mitlaufen" kann. Nie fragte ich, warum mich meine Eltern partout mit Büchern wie "Der kleine Chemiker" oder "Chemie des Alltags" bekannt machten, warum sie meinem Bruder und mir sogar ein kleines Laboratorium einrichteten, mit Erlenmeyerkolben und Eprouvetten und ähnlichem Krimskrams. Und warum man mir den innigen Wunsch einzupflanzen suchte (erfolgreich, wie es schien), Chemiker zu werden. Erst viel später erfuhr ich es. Chemie war eine der wenigen Studienrichtungen, die Vierteljuden absolvieren durften. Vorläufig jedenfalls.

Aber im deutschen Jungvolk war ich. Dort wurde ich akzeptiert, weil zwar der Nam', aber nicht die Art bekannt war (um Wagners "Lohengrin" verfremdet zu zitieren). Und weil ich relativ gut singen konnte, wurde ich - war es (um in der damaligen Diktion zu bleiben) der "Jungenschaftsführer", war es der "Jungzugführer"? - gefragt, ob ich nicht im Radio singen wolle. Im Reichssender Wien. Dort trete die sogenannte Rundfunkspielschar auf, eine eigene Gruppe, mit eigenen Abzeichen auf dem braunen Hemd.

Nicht mehr auf "des Dienstes immer gleichgestellte Uhr" achten zu müssen (wieder ein deutscher Dichter, nämlich Friedrich Schiller)? Nie mehr exerzieren, sondern nur mehr singen? Hurra! Der "Dienst" spielte sich im Funkhaus in der Argentinierstraße ab, im Großen Sendesaal. Probieren, und dann Aufnahme. "Flamme empor!" Meine Mutter hat sich, glaube ich, insgeheim die Hände gerieben. Urgroßvater Nathan hätte gekichert. Großpapa hätte sich gewundert: Der Judenstämmling, der "Lieder der Bewegung" singt? Der Mischling, der im Reichssender trällert? Dass wir auch "Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand . . ." (natürlich dem "deutschen Vaterland", wie es sich damals gehörte) sangen, war Erholung von den kämpferischen Weisen.

Ich bin überzeugt, dass auch die Funktionäre, die "Führer", von denen die Rundfunkspielschar kommandiert wurde, nichts von meiner Abstammung wussten. Ich bin überzeugt, dass ich - nein, ich will mir gar nicht vorstellen, was dann passiert wäre. Ich weiß auch nicht, wie es dann zu Ende gegangen ist, ob wir im Reichssender Wien auch anno 1944 noch sangen, als rundum schon die Bomben fielen. Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Rundfunkspielschar-Buben schon bald heimgeschickt wurden, weil sich die Spielschar aufgelöst hat. Gleichsam versickert ist.

Keine "Lieder der Bewegung" mehr! Keine Flamme mehr, die emporsteigt. Aber immerhin wusste ich, dass, wie mir mein erstes Lateinbuch einbläute: "Germania magna et clara terra est." Und ich wusste, dass ich einen ehrlichen Geschichtsprofessor hat- te. Er war Klassenvorstand, trug täglich das Parteiabzeichen am Revers, wusste natürlich von meinem "Webfehler", ließ es mich aber nie fühlen. Immerhin stand ich ja mit den anderen angetreten im Schulhof, wenn es Feiern gab, hielt den rechten Arm empor und sang. Damals war ich kein Musterschüler mehr, ein Schwätzer vielmehr. "Wenn du nicht ruhig bist, müsste ich etwas sagen", sagte der Professor einmal zu mir. Ich wusste damals, was er meinte. Ich war immerhin elf Jahre alt.

Szenenwechsel. Das Erleben der letzten Zuckungen des "Reichs" in Mauterndorf. Deutsche Kolonnen, die sich auf den Tauernpass zu bewegen. Und der Bub, dessen Hemd mit dem stolzen Dreieck am Ärmel ("Rundfunkspielschar Wien") es nicht mehr gab, sitzt mit einem Freund am Waldesrand, sieht die Wehrmachtsreste und fragt: "Sag, glaubst du noch an den Endsieg?"

Die Indoktrinierung, von den Eltern aus Sorge und demnach aus guten Gründen geduldet, scheint tief gewesen zu sein. Kann ich Günter Grass einen Vorwurf machen? Gewiss, er hat sich geschämt. Gewiss, er hat sich post festum als Antifaschist geriert, wie es kaum einen anderen gab in der neuen deutschen Literatur. Und auch als Sozialdemokrat. Aber sind nicht gerade Menschen aus tiefbraunem Elternhaus dann fast "Berufs-Antifaschisten" geworden?

Ich wäre fast ein kleiner "Hitlerjunge Salomon" geworden. Die "Nationalpolitische Erziehungsanstalt" ist, weil niemand davon wusste, knapp an mir vorbeigegangen. Ich habe mich vorher nicht beknirschen müssen und muss mich heute nicht berühmen. Jedes "Was wäre gewesen, wenn" ist bekanntlich absolut unhistorisch. Viel später habe ich vernommen, dass im "Weltreich Germania" auch alle Judenstämmigen deportiert worden wären. Von einem, der anfangs "freiwillig" zur NS-Rundfunkspielschar ging, handelt diese Geschichte. Vielleicht hilft sie mit, zu deuten, was man alles unter "freiwillig" verstehen kann. [*]

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