Die Sucht nach dem Schein

Es gibt ein Drogenproblem,
das nicht geahndet wird. Und
Sie haben dieses Problem.
Weil Sie unausgesetzt funktionieren müssen, auf eine
so elende Weise, dass Sie sich
ununterbrochen betäuben.

Wie muss eine Welt beschaffen sein, damit wir sie nüchtern zumindest ertragen, und wäre eine solche Welt überhaupt wünschenswert? Das sind zwei Fragen, die ich hier nicht beantworten werde. Wahrscheinlich nicht einmal, wenn ich wollte, beantworten könnte, die aber den Fluchtpunkt markieren, auf den perspektivisch jede Auseinandersetzung sowohl mit Kunst als auch mit Sucht zuläuft - oder vor dem sie eben zurückweicht. Es genügt also, diese Fragen auszusprechen, nur damit sie da sind, um im Ermessen der Distanz beurteilen zu können, wie weit wir in unseren Bemühungen, unser Leben zu machen, vorangekommen sind.

Kunst, das ist in Hinblick auf den angesprochenen Fluchtpunkt die Reisetasche, in die alles hineingepackt ist, was Sie alle für Ihren jeweiligen Trip benötigen: etwas zum Wechseln, etwas zum Reinigen und auch die Gerätschaften, die Ihnen anzeigen können, wo Sie sich gerade befinden. Denn Kunst ist die Erschaffung einer Welt, in der Sie sich bewegen können, um das Ungenügende Ihrer Lebenswelt zu erfahren. Sie zeigt, was immer sie zeigt, in jedem Falle auch, wie "es gemacht wurde" - um mit einem berühmten Zitat von Balzac zu sprechen: "Am Ende wissen wir nur eines mit Sicherheit: Wir haben gelebt. Was wir erzählen müssen, ist: wie? Wir müssen zeigen, wie es gemacht wurde." Was ist dieses Balzacsche "es"? - Worunter gelitten wurde, unter dem Firmament welcher Sehnsuchtsbilder, welche Formen des Wahnsinns als normal gelten konnten und was durch das Netz sozialer Kompatibilität durchrutschte, ins Nichts, in die Verderbnis, in einen langsamen oder schnellen Tod.

Die Kunst der vergangenen Jahrhunderte, die bis heute ihre Gültigkeit und ihre Geltung bewahrt hat, ist im Grunde genommen die Schande unserer Gegenwart, und zwar deshalb, weil wir uns im Elend, das Kunst und Literatur in immer neuen Formen darstellte, noch immer wiedererkennen können und noch immer wiedererkennen müssen. Es sind alte Echoschreie unserer Defizite, auch wenn sie inszeniert werden wie seraphinischer Jubel, in den Festspielen, in der tourismusrentablen Umwegkultur. Wie es gemacht wurde, hat Balzac gesagt, das muss dargestellt und erzählt werden. Dieses "es" markiert, was wir nicht ertragen. Alles, was wir wollen, wie wir leben und denken, wie wir uns als Individuen überschätzen und zugleich zerstört sehen, all unsere Hoffnungen, all unsere Widerstände - kurz, dies, das Wichtigste, nämlich das Leben, sehen wir nur mit ES bezeichnet. Ein Pronomen, das nicht auf unseren Namen verweist, ein Neutrum, das aber nicht sachlich ist, weil es auf die Abgründe der Seele und ihren Zuchtmeister verweist, nämlich das ES im Freudschen Sinn, und nicht auf eine sachlich vernünftige soziale Grammatik.

Denn unsere Lebensgrammatik ist auf den Kopf gestellt. "Frei" ist ein Adjektiv ohne Eigenschaft, "Glück" ein von der Rechtschreibreform übersehenes Substantiv, dessen Umlaut man mit i schreiben müsste - "Glick" -, um das maschinelle Einrasten unserer Bedürfnisse in den Bedürfnissen der Wirtschaft auszudrücken. Hauptwörter alleine werden zu Relativsätzen. "Reform" zum Beispiel, ein Begriff, der immer nur als ein Gestammel von untergeordneten Relativierungen angerufen wird, die nie versprechen können, dass am Ende, wenn endlich ein Zeitwort auftaucht, beizeiten irgendetwas besser geworden sein wird. Dies ist eben auch ein Grund dafür, dass jede wahre Reflexion über Kunst immer auch gleich eine Reflexion über das Leben ist und jede Reflexion über Kunst und Leben bald auch eine Reflexion über Sucht wird.

Ich weiß nicht, wie sich Sucht korrekt etymologisch ableitet, aber für mich stecken zwei Bedeutungsfelder in diesem Begriff - nämlich die Seuche und das Suchen. Also einerseits das, was uns krank macht, noch bevor wir überhaupt mit einer Sucht begonnen haben, andererseits auch die Hoffnung, Heilung zu finden oder die Erlösung, zumindest Techniken, die es uns ermöglichen, das Leben zu ertragen. Wodurch sich am Horizont schon wieder der Fluchtpunkt zeigt, von dem ich gesprochen habe.

So gesehen ist auch Kunst keine Heilung, sondern nur ein Krankheitssymptom, wie auch die Sucht bekanntlich keine Lösung ist, sondern Symptom dafür, dass wir sie suchen. Sie alle, Leserinnen und Leser, sind ja in gewissem Sinn Künstlerkollegen, nämlich zumindest Lebenskünstler, worunter ich durchaus im Sinn der Kunsttheorie verstehe, dass es Ihnen gelingt, Ihrem Leben eine Form zu geben, die es für andere rezipierbar macht und wieder erkennbar - eine Form, bei der es aber auch großer Interpretationsanstrengungen bedarf, um die Abgründe sichtbar zu machen, die unter dem schönen Schein verborgen sind, den Sie produzieren. Sie alle gestalten für sich ein Leben, das Sie so nicht ernstlich führen wollten, das Sie aber in einer dialektischen Volte doch glauben, unbedingt führen zu müssen - mit geradezu tödlichem Ernst. Es ist wahrlich Kunstanspruch, wenn Sie aus dem Material Ihres Lebens einen schönen Schein formen, an den Sie schließlich selbst glauben, so wie es jeder Künstler tut, der alles, was er ausdrücken will, nur fingiert, bis er es am Ende selbst wirklich empfindet. Nur wenn Sie alleine sind, Ihrer sozialen Aura enthoben, der Sphäre Ihrer Anerkennung entzogen, in den einsamen Niederungen Ihrer privaten Existenz, so luxuriös auch immer Sie ausgestattet sein mag, finden Sie sich plötzlich im kunstfreien Raum, ganz allein bei sich, dort, wo es keinen Schein mehr gibt, keine Schönheit, keinen Trost. Nur die Normalität, die zur Flucht in Kunst und Sucht immer wieder aufs Neue zwingt.

Ein Mann mit geglücktem Leben zum Beispiel, geglückt etwa deshalb, weil er ein Mann mit öffentlicher Verantwortung wurde, Anerkennung, Wirksamkeit, ein Vorbildcharakter, ein Politiker etwa: Ein solcher Mann, der nach ich weiß nicht wie vielen Ehejahren seine Ehefrau nicht mehr begehrt, ist in der Normalitätsfalle - erst recht, wenn er in wiederkehrender Verzweiflung von Erlösung träumt, so simpel und zugleich unendlich kompliziert sie auch sein mag. Erlösungsfantasien sind immer beschämend primitiv und dabei unerträglich kompliziert und dann in der Praxis nur noch kompliziert. Jedenfalls Normalität: Kann dieser Mann, den wir jetzt als Beispiel nehmen, "es" leben, das Normale? Hier sehen Sie schon, wie kompliziert, wie doppelbödig es sich verhält mit dem, was wir Normalität nennen. In dem Augenblick nämlich, da er sein geglücktes Ehe- und Familienleben - von dem wir aber wissen, das es so geglückt nicht ist - in die Auslage seiner repräsentativen Tätigkeit stellt, und das wird er tun, ist er eine Kunstfigur: ein Fest für jeden, der sich für Kunst interessiert, aber ein Elend für jeden, der sich fragt, was der Mensch ist, zugleich aber auch schon ein Suchtcharakter, wenn er öfter und tatsächlich glücklicher das falsche Eheideal öffentlich ausstellt, als seine reale Ehe zu Hause zu ertragen.

Es ist die Sucht nach dem Schein, die auch das Geheimnis des Workaholics ausmacht. In dieser Sucht nach dem Schein berühren sich die allgemeinen Produktionsverhältnisse mit der Kunst. In einem Schein, der bedeutet: Das Sein soll nicht so sein. Es ist unmenschlich, süchtig nach Arbeit zu sein. Vor allem dann, wenn die Arbeit zu keinem individuell befriedigenden und sozial vernünftigen Produkt führt. Wer sich die Frage nach den objektiven Bedingungen und Konsequenzen seiner Arbeit nicht stellt, muss Baumeister einer Scheinwelt werden, in der es nur noch um den Schein von Vernunft geht, den Schein von Erfolg, von Macht, von Bedeutung. Je mehr eine Arbeit untergeordnet ist, desto weniger Illusionen vermag sie zu produzieren - das wissen wir alle, das ist auch ein Bestandteil des sozialen Skandals. Ein Arbeiter an der Maschine weiß, was er tut, auch und erst recht, wenn erbärmlich ist, was er tut. Der Manager aber weiß nicht mehr, was er tut, nämlich was er objektiv tut, und erst recht niederschmetternd wird, was er sonst zu wissen glaubt. Er glaubt, er macht, und ist doch nur ein Gemachter - und schon sagt er es selbst, er will es sein: ein gemachter Mann. Gemeinsam aber produzieren sie einen Reichtum, der beide verelendet. Wie ungerecht auch immer bekanntlich der Reichtum verteilt wird, gemeinsam ist ihnen das Elend des "Funktionieren-Müssens", das Elend des Konformismus, des Opportunismus, der Unterwerfung unter selbstverschuldete Sachzwänge, das subjektive Elend, das herausqualmt aus diesem erstickten Brennen ihres objektiven Elends. Die Angst, das wenige zu verlieren, das es zum Überleben braucht, oder die Angst, etwas mehr zu verlieren, nämlich ein etwas privilegierter ausgestattetes Leben und einen etwas teurer aufpolierten Schein, den Status, der einen unter Subalternen hervorhebt. Es ist die Angst, die sie gemeinsam haben, es ist die gemeinsame Angst, in der sich keine soziale Gerechtigkeit einstellen kann. Wer diese Angst aber hat, also jeder, ich so sehr wie Sie, ist gefährdet, ist anfällig für alle möglichen Formen von Gift, das unsere Wahrnehmung einigermaßen glücklich verzerrt. Und das ist verheerenderweise das Einzige, was uns alle gleich macht.

Was ich Ihnen also in Erinnerung rufen will, ist nichts anderes als das Giftige dessen, was wir Normalität nennen, der Suchtcharakter, den sie produziert. Und nicht zuletzt, dass ebendies eine Kunstwelt ist, aus der keiner flüchten müsste, der ein Bedürfnis nur nach einer Kunstwelt hat. Jeder ahmt den Nächsten nach, mittlerweile sogar den Fernsten, auf eine Weise, die bereits sogar dem Unglück einen Anschein des Lächerlichen gibt. Gibt es etwa in Wien, Linz oder Bludenz keine andere Jugendkultur als eine solche, die sich teuer die Insignien der Jugendkultur kauft, die vor 20 Jahren im Elend der Bronx entstanden sind? Das gehorcht nicht einmal mehr der Logik der Globalisierung, sondern nur noch der Logik des Elends, das so massiv ist, dass es jegliche Fantasie und selbst das Minimum eigener Kreativität völlig ausgelöscht hat.

Kinder sagen die Wahrheit, sagt man. Das stimmt. Sie sagen die Wahrheit über ein Elend, das weit über sie selbst hinausreicht. Die Eltern sind verzweifelt wegen der Markensucht ihrer Kinder, aber nicht, weil diese Markensucht eine Sucht ist, sondern weil die Marken so teuer sind. Aber selbst dies ist ein Selbstbetrug, denn ohne Zweifel würden die Eltern ihren Kindern zuliebe sogar zu den Mitteln der Beschaffungskriminalität greifen, wenn sie in ihren Kinder, so wie sie es gerne behaupten, sich selbst erblicken könnten. Aber sie tun das gar nicht. Sie betrügen sich selbst, wie es alle Süchtigen tun, dulden in ihrer Sucht nicht die Einsicht in ihre Sucht und kennen keine Solidarität mehr mit ihren Nächsten, nicht einmal mit ihren Allernächsten. Sie haben die Erfahrung, dass ihre eigene Sucht viel wichtiger ist und viel billiger zu haben ist als die ihrer Kinder. Nämlich ihr süchtiges Funktionieren, das kostet nichts, das scheint vielmehr etwas zu bringen. Nämlich Einkommen und Anerkennung. Ihr eigener billiger Konformismus ist so billig, dass sie nicht begreifen, dass sich ihr Nachwuchs mit seiner teuren Markensucht genau darauf vorbereitet.

Eigentlich wollte ich über mein eigenes Suchtverhalten schreiben, es zu erklären oder zumindest selbst zu verstehen versuchen. Ich wollte bloß vorher das Bühnenbild hinstellen, vor dem meine Selbstdarstellung erst ihren Sinn ergibt, den Kontext, in dem sie verständlich wird, aber dann hat sich gleich das Bühnenbild zu bewegen begonnen, und die große Bühnentechnik ist immer stärker als der Unbefugte, der auf die Bühne springen will. Die große Theatermaschinerie, die sich Welt nennt, hat so viele Kulissen vorgeschoben, dass ich gleich wieder von der Bühne gedrängt wurde, als ich nur versucht habe, sie zu betreten und meine Selbstvorstellung zu beginnen, und das ist eben auch das Schicksal des Künstlers: Er will Ich sagen und ist weggeschoben und in den Souffleurkasten gefallen. Da sitze ich jetzt und kann Ihnen, die Sie sich so viel gekonnter im Kulissengeschiebe bewegen, nur zuflüstern: "Ich bin süchtig." Aber ich bin nun der Souffleur, und Sie müssen das wiederholen: "Ich bin süchtig." Lernen Sie Ihren Text. Sie sagen doch sonst so gerne, was man Ihnen vorschreibt, beschreiben sich mit den Worten so gerne, die man Ihnen vorsagt. Beginnen Sie doch einmal über Ihr Leben nachzudenken, indem Sie von diesem Satz ausgehen. "Ich bin süchtig." Wonach? Nach einer Scheinwelt, in der der Sachverhalt erträglich wird, dass keiner von uns und erst recht wir alle zusammen nicht eine glückliche Welt bauen können. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass Sie nichts tun, was Sie kaputt macht. Was Sie tun, macht Sie und verheerenderweise auch andere kaputt. Nur langsamer, als es bei bewusster Selbstzerstörung der Fall wäre. Im Grunde wissen Sie es auch, denn Sie sind Teil eines Gemeinwesens, das genau diese Entscheidung getroffen und zum Gesetz gemacht hat: nämlich nur jene Drogen zuzulassen, die langsam töten, und jene Drogen zu verbieten, die schnell töten.

Aber nicht einmal dies, dieser vernünftige Aufschub, ist der Grund für Ihre Entscheidung, sondern letztlich die Aggression, die in Ihrem eigenen Elend schwelt. Woher diese Aggression? Weil Sie unausgesetzt funktionieren müssen, auf eine so elende Weise, dass Sie sich ununterbrochen betäuben, Ih- re Selbstreflexion runterdimmen, Ihre Gefühle anästhesieren, Ih- re Handlungsfähigkeit beschränken müssen, um zu ertragen, dass Sie funktionieren müssen. Es gibt ein Drogenproblem, das von der Polizei und von Gerichten nicht verfolgt wird. Sie haben dieses Problem. Sie haben es, weil Sie eben nicht verfolgt werden wollen, nicht einmal geschmäht oder kritisiert. Sie funktionieren so willenlos, als wären Sie betäubt, und ich sage Ihnen, Sie sind betäubt. Sie können nicht Nein sagen, auch wenn Zivilcourage nicht Ihr Leben in Gefahr bringt. Wenn Sie jetzt schon nicht Nein sagen können, es nicht wagen, obwohl es gefahrlos ist, wann werden Sie Nein sagen? Wenn es gefährlich ist? Wie kann ich mich auf Sie verlassen? In Ihrer Mitte glücklich werden? Mich sicher fühlen? Muss ich mich selbst da nicht besser betäuben?

Glück, geglücktes Leben, das sagt sich so leicht. Aber wir müssen es immer wieder sagen vor den Kulissen, die wir aufgebaut haben, und mit Blick auf den Fluchtpunkt, von dem ich gesprochen habe. Ich selbst hatte zweimal Glück in meinem Leben - also Glück, das in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist. Das erste Mal alleine durch meine Geburt. Da waren liebevolle Eltern, da war Friede nach zwei mörderischen Kriegen, da war bereits so etwas wie Wohlstand, auch wenn er, gemessen an dem, was heute als Wohlstand gilt, lächerlich erscheinen mag. Und es herrschte, das war neu, ein Konsens dahingehend, dass selbst einer wie ich studieren darf. Das war ursprünglich nicht vorgesehen, aber nun war es möglich. Ich hatte Glück, und es zeigt, man muss Glück immer in seiner sozialen Dimension begreifen. Eben deshalb gibt es keine Garantie, dass das Glück dann auch individuell funktioniert. Weshalb ich ein zweites Mal Glück haben musste. Plötzlich nämlich war es da, beim jungen Herrn Doktor mit seiner Zukunft: ein Glühen, ein Brennen, ein Schmerz, das den Grund, auf dem ich mich befand, zu verdrehen schien wie dür-re Bretter - und es sind dürre Bretter. Daraufhin habe ich mit allen harten Drogen experimentiert, deren ich habhaft werden konnte. Ich woll te Bewusstseinserweiterung, ich wollte ein antibürgerliches Leben. Rechtfertigung finden wir, wie Sie wissen, für alles. Bis ich eines Tages in einem Spital aufwachte. Ich war gerettet. Ich habe Glück gehabt. Aber Glück müssen wir, wie schon gesagt, in seiner sozialen Dimension begreifen, und dieses zweite Glück ist nur mein Glück alleine gewesen. Die Welt aber, die soziale Realität, die das Glühen und Brennen, das schnelle oder langsame Verzehren produziert, war ja deshalb noch lange keine andere, wird eher noch länger keine andere werden.

Mittlerweile ist der allgemeine Wohlstand größer geworden, aber die Bildungschancen werden wieder schlechter. So schlecht, dass man als sensibles Gemüt zumindest zwei Liter Wein braucht, um überhaupt das Wort Chance in diesem Zusammenhang ertragen zu können. Durchgeschleust werden durch Ausbildungsfabriken, ohne die Chance, auf einen Gedanken zu kommen, eingeübt zu werden auf bloßes Funktionieren unter dem Titel Praxisbezug, Bezug auf eine Praxis, die zu verstehen schon nicht mehr Bestandteil der Ausbildung ist. Wie muss es erst sein, das Glühen und Brennen der Menschen, die nicht mein Glück haben, sondern bloß ihres? Welche Drogen müssen sie nehmen, um ihr Elend zu betäuben, aber auch ihre Mitleidsbegabung. Wir wissen es, aber wir tun es, nämlich: es hinnehmen. Das Problem all unserer gesellschaftlichen Techniken, das Leid zu betäuben, das unser gesellschaftliches Leben produziert, ist, dass als Kollateralschaden auch unsere Gabe, Mitleid empfinden zu können, beschädigt wird. Es wird durch Sentimentalität und Rührseligkeit ersetzt, denn irgendein Ventil brauchen wir immer. Menschen, die nicht unser Glück hatten, werden wie etwas Unappetitliches gemieden, obwohl sie doch nur denselben Appetit auf das Leben haben wie wir. Asylsuchende etwa, Menschen also, deren Sucht wirklich reines Suchen ist, aber die meisten verstehen das nicht, die für Opfer in fernen Weltgegenden selbstverständlich spenden, von Fernsehbildern sentimental berührt. Fern-seh-bilder, die nahen rühren sie nicht. Im eigenen Haus wollen sie nur ihre Kitschbilder aufhängen, unter denen sie dann sitzen und nicht verstehen, warum es so unbehaust ist.

Sie sind gefährdet, meine Damen und Herren. Gehören Sie zu denen, die die Gabe zum Mitleid erst dann in sich entdecken, wenn Sie den eigenen Krebsbefund in der Hand halten? Das Mitleid mit sich selbst, das dann erst recht alles betäubt, was Mitleid bedeutet, weil es nur noch Ausdruck einer verzweifelten Aggression gegen alle anderen ist, die noch nicht ihr Ablaufdatum aufgeprägt bekamen, immer wieder formuliert in der Frage: Warum gerade ich? Die Antwort hat jeder längst gegeben, der sein Leben lang "Ich, gerade ich" gesagt hat, im Ich-Sagen identisch mit jedem anderen, ohne sich zu fragen, worin sich entfaltete Individualität wahrhaftig erwiese. Dann ist die letzte Chance dahin, Glück als soziales zu erleben, die Kulissen des Lebens umzustoßen, um die Maschinerie dahinter sehen zu können. Stehen Sie auf, und versuchen Sie, diesen Fluchtpunkt in den Blick zu bekommen, ein Gefühl für die Perspektive zu entwickeln, und pflegen Sie Ihr Mitleid, noch bevor Sie es nur als Selbstmitleid kennenlernen.

Oder wollen Sie wirklich damit zufrieden sein, so lange, wie es nur geht, auf der Lebensbühne einen schlechten Schauspieler abzugeben, der nur dies gelernt zu haben scheint: Merk dir drei Sätze und stolpere nicht über die Kulissen.

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