Weg der Sehnsucht

Man nannte sie "Straße der Völkerwanderung" und "Todesstrecke"; die Spitäler in der Umgebung hatten Hochbetrieb - wie die Autowerkstätten und die Wirtshäuser. Die "Gastarbeiter-route": Was war? Was ist?

Oesterreich Mitte der Sechzigerjahre: Große Koalition, strenge Sozialpartnerschaft, Wirtschaftsboom. Die sich etablierende Wohlstandsgesellschaft beschloss - wie in anderen europäischen Ländern auch -, ausländische Arbeitskräfte in großer Zahl ins Land zu holen. Aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien in erster Linie, aus Staaten, mit denen 1964 und 1966 eigene Anwerbeverträge geschlossen wurden.

Für die in der Folge jährlich zu tausenden nach Österreich strömenden Menschen bürgerte sich zunächst der unkritisch aus der NS-Zeit übernommene Begriff "Fremdarbeiter" ein, der schließlich Anfang der Siebzigerjahre vom Terminus "Gastarbeiter" abgelöst wurde. Parallel dazu tauchte ein neuer geografischer Begriff auf: die "Gastarbeiterroute" - als Bezeichnung für jene transeuropäischen Verkehrswege, auf denen die Arbeitskräfte zwischen ihrem Herkunfts- und dem Aufnahmeland pendelten. Mit den Menschen zirkulierten hier auch Informationen, Geld und Geschenke aller Art, die "Gastarbeiterroute" wurde zum lebensnotwendigen Verbindungsglied in die Heimat, zur Nabelschnur nach Hause.

Chronologisch betrachtet waren zunächst die Eisenbahnlinien von Bedeutung. Züge wie der "Balkan-Express", der "Istanbul-" und der "Jugoslavia-Express" verbanden Österreich via Zagreb und Belgrad mit dem südosteuropäischen Raum. Die Anfangs- und Endpunkte dieser Strecke, die Bahnhöfe, entwickelten sich für viele "Gastarbeiter" zu besonderen Orten: Hier begannen ihre ersten Schritte in eine ungewisse Zukunft, und hierher kamen sie auch später regelmäßig, um Landsleute zu treffen und die begehrten Nachrichten aus der Heimat zu hören. Vor allem der Wiener Südbahnhof wurde schon bald zum "Dorfplatz der Gastarbeiter" mit spezieller Aufbruchsstimmung.

Auch auf der Straße nahm der "Gastarbeiterverkehr" beträchtlich zu. Viele machten in der Fremde ihren Führerschein und reisten künftig mit dem Auto hin und her. Wie überhaupt der eigene PKW zum zentralen Statussymbol wurde, mit dem man den ökonomischen Aufstieg auch in der Heimat überzeugend demonstrieren konnte. Der Autoverkehr spielte sich in erster Linie auf jener Transitstrecke zwischen Norddeutschland und dem Balkan ab, die als die eigentliche "Gastarbeiterroute" bekannt werden sollte und die in Österreich von Salzburg über Schladming nach Liezen, Graz und Spielfeld führte. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um zweispurige Bundesstraßen, nur bei Salzburg gab es bereits ein kleines Stück Autobahn. Enorme Verkehrsüberlastungen, kilometerlange Staus und unzählige Unfälle waren die Folgen.

In der Urlaubszeit verkehrten hier bald mehr als 30.000 Kraftfahrzeuge täglich; vor der Staatsgrenze bei Spielfeld bildeten sich Stauräume bis zu 30 Kilometern. Chefinspektor Franz Tscherner, Leiter der Grenzkontrollstelle Spielfeld und seit fast vier Jahrzehnten hier Dienst verrichtend, erinnert sich: "Im Winter 1969, kurz vor Weihnachten, gab es erstmals das totale Chaos. Tausende Gastarbeiter strömten ihren Heimatländern zu. Die Exekutive war für den Ansturm nicht gerüstet. Noch dazu setzte Schneefall ein, sodass einfach alles zusammenbrach. Schützenpanzer des Bundesheeres mussten eingesetzt werden, um die verstopfte Straße wieder frei zu machen."

Die dramatischen Stunden hatten Konsequenzen. In den folgenden Jahren wurden die immer stärker werdenden Reisewellen von der Exekutive möglichst früh koordiniert und organisiert, der Grenzübergang selbst wurde baulich erweitert und sukzessive für eine sechsspurige Abfertigung ausgebaut. Dennoch gab es weiterhin beträchtliche Wartezeiten an der Grenze, da die jugoslawische Seite sehr schleppend abfertigte und streng kontrollierte. Wer erinnert sich nicht an die einschlägigen Staumeldungen im "Ö3 Verkehrsdienst", die in den Siebzigern schon zum Radioalltag gehörten?

Sie sind auch in dem Spielfilm "Auf der Strecke" zu hören, unter der Regie von Lukas Stepanik entstanden und fast so etwas wie ein Roadmovie über die "Gastarbeiterroute". Eine jugoslawische Familie begibt sich darin auf den Weg nach Süden, wird aber kurz vor der Grenze, in dem kleinen Ort Strass, mit der verfrühten Geburt ihres Kindes konfrontiert. Das anfängliche Misstrauen der Ortsbewohner schlägt letztlich in Verständnis und Hilfestellung um - eine für heutige Begriffe wohl allzu bemühte Bekehrungsgeschichte, die jedoch auch deutlich macht, wie sehr sich der Alltag für die Bevölkerung entlang der Strecke veränderte.

Nicht nur zum Negativen jedoch. Speziell vor der Grenze war mittlerweile eine regelrechte Geschäftsmeile entstanden. Franz Tscherner: "Die Kaufhäuser sind aus dem Boden geschossen und hatten rund um die Uhr geöffnet, auch zur Nachtzeit. Viele Gastarbeiter wollten ja noch schnell einen großen Einkauf tätigen und für ihre Angehörigen etwas mitbringen. Und so haben eigentlich alle Geschäfte in Grenznähe geboomt. Wirtschaftlich war es sicher für die ganze Region ein Gewinn."

Gekauft wurde vor allem Kaffee, aber auch Schokolade, Kinderspielzeug, Fernsehgeräte und Waschmaschinen. Umgekehrt wurden nach Österreich meist Lebensmittel aus der Heimat eingeführt, die man damals hierzulande noch nicht so leicht bekommen konnte - spezielle Kraut- und Reissorten, Schafkäse oder Oliven.

Auch an anderen Orten entlang der "Gastarbeiterroute" blühte das Geschäft, vor allem in den Gaststätten und Beherbergungsbetrieben, bei Tankstellen, Autowerkstätten und Autoverleihern. Letztere waren oft Retter in der Not, wenn die Fahrzeuge den Geist aufgaben und die Reise nur mit Hilfe eines Mietwagens fortgesetzt werden konnte. Der steirische Teil gehörte eindeutig zu den schwierigsten Abschnitten des knapp 3000 Kilometer langen Verkehrsweges, der Europa als lang gezogene Diagonale durchschnitt. Die relativ schmale, stellenweise recht unübersichtliche Straße durch die Alpen mit der Überquerung des Schoberpasses stellte besondere Anforderungen sowohl an die häufig bereits ermüdeten Lenker - viele von ihnen saßen zehn Stunden und mehr in ihren Autos - als auch an die oft technisch veralteten und bisweilen stark überladenen Fahrzeuge. Die Zahl der Verkehrsunfälle stieg denn auch dramatisch. So gab es im September 1976 allein an einem Wochenende elf Tote und Dutzende Verletzte. Die Zeitungen schrieben vom "Massenmord auf den steirischen Straßen", von einer "Horror-" und "Todesstrecke", ein Image, das die "Gastarbeiterroute" künftig prägen sollte. Die Spitäler in der Umgebung hatten Hochbetrieb. Geradezu berüchtigt war das Unfallkrankenhaus Kalwang, wo die Ärzte in zwei OP-Schichten rund um die Uhr im Einsatz waren.

Die Gemeinden entlang der Strecke protestierten gegen den immer stärker werdenden Durchzugsverkehr und die damit verbundene Umweltbelastung und Gefährdung der Bevölkerung. Die eigene Dorfstraße war zur "Straße der Völkerwanderung" ("Kleine Zeitung") geworden. Sie zu überqueren stellte mittlerweile ein lebensbedrohliches Unterfangen dar und war nicht selten mit minutenlangen Wartezeiten verbunden. "Das ist zu viel!", verkündeten die Einwohner der kleinen, nördlich von Graz gelegenen Marktgemeinde Peggau im August 1977. Die Gemeindevertretung und der "Schutzverband zur Entlastung der Gastarbeiterroute" riefen zum Sitzstreik auf. Die Strecke wurde - mitten in der Haupturlaubszeit - gesperrt, endlose Autokolonnen waren die Folge. Dies sollte ein Signal fürs ganze Land sein, so hoffte man zumindest.

Ortsumfahrungen, vor allem aber die Pyhrnautobahn brachten punktuell eine Entschärfung der Situation. Der vollständige Ausbau der Autobahn dauerte allerdings allein in der Steiermark 20 Jahre, erst 1991 wurde Spielfeld erreicht. Die "Gastarbeiterroute" hatte sich damit von Salzburg weg Richtung Passau und Linz verlagert.

Da die geringen Fahrpausen der "Gastarbeiter" das Problem wesentlich verschärften, wurde als europaweit einmaliger Versuch im Juli 1988 bei Mautern ein sogenannter "Moslem-Rastplatz" eröffnet. Dieser zeichnete sich durch eigens für türkische "Gastarbeiter" adaptierte Einrichtungen aus: ein Büffet ohne Schweinefleisch und Alkohol, spezielle WC-Anlagen, ein provisorisches, aus Brettern gezimmertes Bethaus. Das vom "Kuratorium für Verkehrssicherheit" initiierte Projekt bewährte sich bestens, nicht zuletzt auf Grund der umfangreichen Bewerbung und Vorabinformation in Deutschland. So blieb der Rastplatz auch die kommenden Jahre über bestehen. Schon von weitem konnte man die türkische und die österreichische Fahne erkennen, die den Standort markierten und hier, mitten in den Alpen, nebeneinander im Wind flatterten.

Viele "Gastarbeiter" bevorzugten die Reise mit dem Autobus, etwa mit den bekannten Busunternehmen "Bosfor-" und "Varan-Turizm". Zwei Mal pro Woche, jeden Dienstag und Freitag, verkehrten Autobusse beispielsweise zwischen Wien und Istanbul. Die Fahrt, bei der sich zwei Chauffeure abwechselten, dauerte im Regelfall mehr als 30 Stunden. Deniz Gönül, "Bosfor"-Mitarbeiter der ersten Stunde und heute Chef des Reisebüros, erinnert sich: "Bei der Fahrt in die Türkei gab es stets Freude und gute Laune, bei der Rückfahrt gab es Abschiedsschmerz und Tränen, manche küssten noch einmal den Boden ihrer Heimat."

Gerade für ein riesiges Land wie die Türkei war der Busverkehr von zentraler Bedeutung, konnte man doch nur mit dem Autobus bis in jene entlegenen Dörfer gelangen, aus denen die Menschen oft stammten. Bis der Ausbruch des Jugoslawien-Kriegs 1991 völlig neue Verhältnisse schuf. Eine "neue Gastarbeiterroute" entstand - über Wien, Ungarn und Rumänien -, während die alte zur Sackgasse wurde. Sie sollte erst fünf Jahre später, mit der erneuten Öffnung des "Autoput" Zagreb-Belgrad, zum Leben erwachen, nun allerdings weit weniger Schlagzeilen machend als ihre berühmt-berüchtigte Vorgängerin. Viele der nun schon Jahrzehnte in Österreich lebenden "Gastarbeiterfamilien" und deren Nachkommen waren mittlerweile auf den Flugverkehr umgestiegen, ermöglicht durch Billigangebote der Airlines, oder auf sichere Schiffsverbindungen, die von Italien aus in die Heimat führten. Die Sehnsucht hatte rasch neue Wege gefunden. [*]

Ab 22. Jänner zeigt das "Wien Museum" am Karlsplatz die Ausstellung "Gastarbajteri - 40 Jahre Arbeitsmigration".

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