Starkes Christentum: „Religionen, die nicht denken, gehen unter“

Interview. Kulturphilosoph Thomas Macho über notwendigen Glaubensverlust und die Überlebenskraft der christlichen Religion.

Die Presse: Für Kulturhistoriker ist das Christentum gerade deshalb so interessant, weil es im öffentlichen Raum über Jahrtausende eine so starke, prägende Rolle gespielt hat. Geht diese Zeit für Europa zu Ende?

Thomas Macho: Zunächst muss man den Unterschied zwischen Öffentlichkeit und Politik betonen. Politik ist oft genug Geheimdiplomatie. Und dass es durch Aufklärung und Modernisierung zu einer gewissen Trennung von Religion und Politik gekommen ist, bedeutet nicht, dass der Religion die Öffentlichkeit verschlossen wurde. Die Religionen besiedeln durchaus den öffentlichen Raum: durch ihre Kultstätten, Symbole und Gebäude, die nicht nur den Status von Denkmälern haben.

Aber die Entwicklung zu Denkmälern ist voll im Gang. Liegt die Zukunft des Christentums in Europa in einer Neudefinition als Minderheitenreligion?

Macho: In dieser Frage komme ich wieder auf die alte These Hegels vom Christentum als der „absoluten Religion“ zurück. Diese These ist insofern plausibel und nicht überholt, als die Religionskritik der Aufklärung ein Stück weit in der christlichen Religion selbst angelegt war. Die „absolute Religion“, die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (nach Kant), hat etwa die Erklärungen der Menschenrechte begünstigt und ermöglicht. Die universalreligiöse Haltung des Christentums hat sich historisch auch in den zahlreichen Allianzen der christlichen mit anderen Religionen und philosophischen Einsichten gezeigt. In der christlichen Religion, so könnte man mit Niklas Luhmann sagen, ist das System der Religion selbst reflexiv, kritisch wahrnehmbar geworden. Darin besteht auch die bemerkenswerte Überlebenskraft des Christentums.

Man könnte darin auch den Keim der Selbstzersetzung sehen. Trägt das Christentum damit nicht auch sein eigenes Ablaufdatum in sich?

Macho: Das halte ich für unwahrscheinlich. Blickt man ideengeschichtlich zurück, sind gerade jene Ideologien und Religionen untergegangen, die kein reflexives Potenzial entwickeln konnten. Was natürlich langsam verschwindet, ist so etwas wie die Authentizität des „echten“ Glaubens, eine differenzlose religiöse Identität, die häufig genug auch nostalgisch konstruiert wird. Der Glaube an den Glauben muss jedoch verschwinden. Nicht anders vollzog sich die Geschichte der Künste: Spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben sie begonnen, sich selbst zu thematisieren und als Projekte zu entwerfen. Auch diese Prozesse wurden von Verlustängsten begleitet. Dabei sind die Künste aber keineswegs untergegangen: Ihre Bedeutung für die modernen Gesellschaften hat sich sogar gesteigert.

Demnach wäre die christliche Religion mit ihrem „Universalisierungspotenzial“ sogar die stärkste Religion. Nicht alle sehen das so. Botho Strauß glaubt, die Vitalität des Islam werde unsere Kultur überrollen.

Macho: Das ist eine paranoide Vorstellung. Ich wüsste gern, worin die Vitalität des Islamismus bestehen soll! Dass man Leute fanatisiert und beispielsweise zu Selbstmordattentätern macht, haben die japanischen Faschisten sehr gut ohne Religion geschafft. Ich sehe im Islam großartige und vitale Elemente, aber sie tragen gerade nicht zu seinen Fanatisierungspotenzialen bei. Es ist ein bedauerliches Missverständnis des Religiösen, zu glauben, dass Religionen dann vital sind, wenn die Menschen bereit sind, für ihren Glauben in den Tod zu gehen. Das stimmt nicht einmal für die Geschichte des frühen Christentums, auch wenn man sie oft so dargestellt hat. In Wirklichkeit sind auch die frühchristlichen Märtyrer und Märtyrerinnen nur in den später verbreiteten Legenden so freudig in die Zirkusarena gegangen.

Als nicht oder schwerer universalisierbare Religion wäre also eher der Islam langfristig zum Untergang verdammt?

Macho: Der Islam hat ja ursprünglich das reflexive Potenzial der Religion sogar noch gesteigert. Seine Aufklärungsgeschichte hat sich bereits zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert vollzogen. In Spanien formte sich etwa in allen drei monotheistischen Hochreligionen eine Kultur des universalreligiösen Denkens. Der Islam war vielleicht sogar zuerst auf dem Weg zur „absoluten Religion“ (im Sinne Hegels). Verblüffend ist daher, wie es passieren konnte, dass dieser Weg wieder verlassen wurde.

Wenn die christliche als „absolute“ Religion so eindeutig Europa geprägt hat, worin liegt dann das Problem, dies in einer europäischen Verfassung auch auszusprechen?

Die Presse: Verfassungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einfach sind. Wenn man von Wurzeln reden will, muss man auch zugeben, dass Europas Wurzeln auf andere Ursprünge verweisen: einerseits das Christentum auf die jüdische Religion, andererseits die römische Kultur auf ihre griechische Vorgeschichte. Interessant ist, wie sich dieses konstitutive Verhältnis zu den anderen Ursprüngen – was der Philosoph Rémi Brague einmal die „exzentrische Identität“ Europas genannt hat – in einer Verfassung niederschlagen kann. Europa ist ein großartiges Zitat. Und in gewisser Hinsicht ist auch die christliche Religion ein ebenso faszinierendes wie kompliziertes System von Verweisen und Zitaten.

In den Vereinigten Staaten blüht die christliche Religion nicht in ihrer vernunftbetonten Variante – dort haben die charismatischen, Emotion und Mystik betonenden Bewegungen Zulauf, und in Europa bahnt sich eine ähnliche Entwicklung an. Das scheint eher nahezulegen, dass die Vitalität des Christentums in der Abkehr von einer, um mit Botho Strauß zu sprechen, als „blutleer“ empfundenen „universalen“ Religion liegt?

Macho: Die Lage der Religionen in der Moderne ist generell dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in zwei Formen zeigen: einerseits eben im Auftreten universaler, unverzichtbar rationaler Vernunftreligionen, andererseits in der Blüte der Privatreligionen, der Erfahrungsreligiosität mit einem gewissen Hang zur Alltagsmystik. Auch in diesen privatreligiösen Bereichen werden spezifisch christliche Elemente kultiviert; aber die eigentliche Stärke des Christentums liegt gerade nicht in der Esoterik oder Mystik, sondern in der Behauptung (und Mission) eines „Gottes für alle Menschen“ (um einen Ausdruck von Peter Strasser zu zitieren).

Wie hat dann die neue Begeisterung für die irrationale, gefühlsbetonte Seite der christlichen Geschichte Platz? Etwa für die Aura des Papsttums und der Kirche als Machtgefüge, wie sie in Dan-Brown-Romanen gepflegt wird?

Macho: Da zeigt sich auch die Faszination für die Überlebenskraft der christlichen Religion als Institution. Nach dem langen Pontifikat von Johannes Paul II. wurde erst anlässlich seines Sterbens wieder ein Gefühl ausgedrückt für die Kirche als fast 2000 Jahre alte Institution. Und diese Faszination lässt sich auch gut mit katholischer Schauerliteratur verbinden.

Sie denken an Dan Brown?

Macho: Ja. Seine Romane halte ich übrigens für zutiefst reaktionär. Gerade der politische Universalismus der christlichen Religion – zu der auch die Abwendung von jeder dynastischen Herrschaftslegitimation gehörte, im Unterschied zum mittelalterlichen Königtum – wird in „Sakrileg“ mit der These von den Merowingern als Urenkeln Jesu verraten. Und wie man ein so frauenfeindliches Konzept wie die Mystifizierung des Grals als Gebärmutter der Maria Magdalena als feministische Erneuerung der Theologie verkaufen kann, bleibt mir völlig unverständlich.

Aber auch in der Suche nach Jesus-Verwandten und Jesus-Gräbern zeigen sich seltsame Allianzen, da verbinden sich Lust an naturwissenschaftlicher Entmystifizierung und die Sehnsucht nach dem Geheimnis. Wird die Glaubwürdigkeit des Christentums durch solche „Forschungen“ gestärkt oder entwertet?

Macho: Es gibt den alten Jesuitenwitz, wo die Vertreter der Kirche vor einem Grab stehen, in dem angeblich die Knochen Jesu gefunden wurden: Da sagt leise ein Jesuit zum anderen: „Also hat er doch gelebt!“ Was darin zum Ausdruck kommt: Die Überlebenskraft und die Bedeutung des Christentums hängt tatsächlich nicht von irgendwelchen Knochenfunden ab. Doch ist die christliche Religion großmütig genug, um auch das Bedürfnis nach Mystizismus, blutenden Statuen, heiligen Knochen und Grabtüchern zu tolerieren. Die Zukunft des Christentums wird aber gerade nicht mit der Wiederkehr solcher Glaubensformen entschieden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2007)

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