Kritik: Die Hand am Notenblatt

Kühle Rache: "Das Mädchen, das die Seiten umblättert".

Die Montage-Sequenz eines Untergangs eröffnet Denis Dercourts reduziertes Psychodrama La Tourneuse de Pages/Das Mädchen, das die Seiten umblättert: Die blonde Mélanie (unterkühlt: Déborah François) scheitert an der Aufnahme aufs Konservatorium, damit am erhofften Wechsel aus der Arbeiterklasse in die Bourgeoisie. Ein Jahrzehnt später trifft sie zufällig (?) auf die damalige Juryvorsitzende und berühmte Pianistin Ariane (unterkühlter: Catherine Frot), die nach einem Unfall ihr Selbstvertrauen als Künstlerin verloren hat. Sie stellt das Mädchen als Haushaltshilfe ein, freundet sich mit ihr an, gewährt ihr Zugang zu ihrem Privatleben; Mélanie blättert für sie während der Konzerte die Seiten um.

Dercourt, selbst Violinist, weiß um die Wichtigkeit von Taktung: Fast musikalisch gleiten die Bilder ineinander, die formale Anmut schafft Raum für die Erzählung. Ähnliches gilt für Mélanie: Sie fügt sich in ihrer Modulierbarkeit scheinbar natürlich ins bürgerliche Landhaus ein und beeindruckt durch Konzentration. Letztere ist (auch) Ausdruck ihrer gefährlichen Psychopathologie: Schritt für Schritt raubt sie Ariane ihre Lebenswelt.

Proletarier weckt Bürgertum

Auf die Besetzung des Raums folgt die des Körpers folgt die der Identität – ähnlich wie in den Genrefilmen, die in den 1990ern Hitchcocks Frauen-Fetischisierung um weibliche Perspektiven erweiterten: Bridget Fondas schleichende Penetration von Jennifer Jason Leighs intimem Lebensraum in Weiblich, ledig, jung sucht... endet mit einer Kastration, Rebecca de Mornay arbeitete in Curtis Hansons Die Hand an der Wiege an der Auslöschung einer glücklichen Familie.

Dercourt paart diese Psychothriller-Tradition mit reduzierter mise en scène, auch um die aristotelische Hypothese vom Horror vacui zu bestätigen. Die Leere der Bourgeoisie erscheint widernatürlich, Mélanies aktives Eingreifen als nötiges Korrektiv: Der Proletarier weckt das Bürgertum aus seinem Dämmerschlaf.

Die eigentliche Entdeckung des Films ist Déborah François, hier ganz anders als in L'enfant von den Dardennes: Ihr überwiegend körperliches Spiel – die anmutige Haltung wird Angriffs- wie Verteidigungswaffe – vermittelt sie mit kontrollierter Mimik, die zurecht mit Catherine Deneuve in Polanskis Ekel verglichen wurde. Ihre Spielkraft trägt Dercourts solides, teils zu absehbares Psychodrama. mak

Ab Freitag im Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2007)

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