Ein grimmiger Humanist

60. Filmfest Cannes. Mit "Import Export" liefert der Österreicher Ulrich Seidl den bislang überragenden Wettbewerbsbeitrag – und eins der raren politischen Werke.

Ein Mann steht in der Schneewüste vorm Plattenbau und versucht, mit Pedaltritten ein Motorrad anzustarten. Wieder und wieder. Nach geraumer Zeit wird das Leerlauf-Bild abgelöst von einer Signatur: „Ein Film von Ulrich Seidl“. Hundstage-Regisseur Seidl, herausragender Grenzgänger des österreichischen Kinos, erzählt in Import Export von zwei, die über Grenzen gehen: Olga (Ekateryna Rak), Krankenschwester aus der Ukraine, hofft auf besseres Leben in Österreich. Parallel dazu verschlägt es Paul (Paul Hofmann), einen Wiener Arbeitslosen, in die Ukraine.

Nationale Grenzen spielen dabei keine Rolle, sondern existenzielle und vor allem soziale: Olga wird schließlich Putzfrau in der Lainzer Geriatrie-Abteilung – und dort scharf daran erinnert, dass es ihr nun verboten ist, Patienten zu berühren. Nicht nur in seiner thematischen Mehrdimensionalität, auch in seiner inszenatorischen Kraft ist Seidls Film der bislang überragende Wettbewerbsbeitrag in Cannes. Bei der ersten Pressevorführung gab es kurzen, aber intensiven Applaus, eine der stärkeren Reaktionen.

Ukrainisches Sex-Center versus Lainz

Der letztlich stillere Tonfall von Import Export ist vielleicht weniger polarisierend als die ununterbrochene, aggressive Intensität von Hundstage. An provokativem Material mangelt es aber nicht, verschärft durch Seidls typische Vorliebe für die starke Wirkung dokumentarischer Elemente (nicht nur die Hauptdarsteller sind Laien) und tiefschwarze Tragikomik: Zu den echten Schauplätzen zählt ein ukrainisches Internet-Sex-Center, dessen Arbeitsalltag ungeschönt gezeigt wird, in den Lainzer Szenen verwendet Seidl auch demente Patienten.

Eine Kranke hat auch das letzte Wort: „Tod!“ Trotzdem ist Import Export nicht fatalistisch, entlässt die Figuren in ein offenes Ende. Olgas Weg in den Westen führt vom östlichen Sex-Center, wo sie unbegabt modelliert, ins österreichische Bürgerhaus, wo sie als Putzfrau beschäftigt, vom verzogenen Sohn terrorisiert und als Waschkeller-Bewohnerin geduldet wird. Ein archetypischer Seidl-Moment zeigt ihre Unterweisung im Zähneputzen einer ausgestopften Fuchskopf-Trophäe. „Red' i zu schnell?“, fragt Olgas ungeduldige Lehrerin und quittiert ihr akzentschweres „bisschen“ mit einem brüsken „Des macht nix.“ Ebenso unwirsch wird Olga bald darauf gefeuert: „Ich kann Sie einstellen und Sie entlassen, so ist das bei uns!“ Beim nächsten Putzjob in Lainz sieht eine Schwester (unbarmherzig: Maria Hofstätter) in Olga bloß eine Gewinnlerin, die Rivalität eskaliert in Gerangel bei einer Faschingsfeier mit starren, maskierten Patienten.

Olgas Import-Existenzängste sind zuerst ökonomisch, als bewegender Kontrast ziehen sich Szenen von zärtlicher Traurigkeit zu einem russischen Schlager durch die Geschichte; dazwischen driftet Westler Paul im Export-Handlungsstrang auf Pump durch die Sinnkrise, nachdem er einen Posten als Wachbeamter verliert. Die Freundin hat er verloren, nachdem er sie mit einem „2000 Kilo Beißkraft“-Hund erschreckt und dessen dem Menschen (und ihr) überlegene Anhänglichkeit gepriesen hat, bevor das Tier einen kuscheligen Teddy in Stücke reißt.

Pauls zielloses Leben wird umgeleitet, als ihn der Stiefvater (Michael Thomas) auf eine Ost-Arbeitsreise zur Installation von Video- und Kaugummiautomaten mitnimmt und an teils surrealen Schauplätzen und in zunehmender Alkoholdusel-Atmosphäre Macho-Konfrontationen sucht. Eine Eskalation im ukrainischen Hotelzimmer provoziert Pauls Ausbruch, markiert zugleich den Höhepunkt der pessimistischen Zustandsbeschreibung einer von Marktlogik und Erniedrigung geprägten Welt: Die Ausbeutung junger (Ost-)Mädchenkörper kontrastiert noch mal schlagend mit den Alten in der (West-)Geriatrie, der düsteren Dialektik stellt Seidl aber erstaunliche Gesten des Mitgefühls gegenüber. Import Export ist ein großer Film eines grimmigen Humanisten.

Coens versuchen seriöses Comeback

Es ist auch das rare wirklich politische Werk im Wettbewerb, wo hauptsächlich Stilübungen regieren. Die sind wenigstens vielfältig: Überzogene Metaphysik aus Russland in Andrei Zviaguintsevs Tarkovksij-Imitat The Banishment, existenzialistischer Leerlauf aus Korea in Kim Ki-duks Breath, unterhaltsames Thriller-Handwerk in No Country for Old Men von den Coen-Brüdern. Mit der Verfilmung des Romans von Corman McCarthy um einen Cowboy, der Millionen findet (eindrucksvoll: Josh Brolin) und von einem Killer (Javier Bardem) gejagt wird, versuchen die Coens ein ernsthafteres Comeback. Ausgerechnet ihr postmoderner Showman-Gestus steht dem im Weg: Die trockene Komik des Stoffs hätte forcierte Gags nicht nötig, die eleganten Ellipsen, der philosophische Anspruch am Ende wollen nicht recht passen.

Befriedigender die Geradlinigkeit zweier außer Konkurrenz gezeigter Krimis: Triangle, eine im „Stille Post“-System erzählte, spaßige Stilübung der Hongkong-Kultregisseure Tsui Hark, Ringo Lam, Johnnie To, und Boarding Gate von Olivier Assayas, ein lupenreiner B-Film, der Sex und Crime mit kühler Modernität serviert und die furiose Asia Argento als Killerin durch undurchsichtige Intrigen, unwirkliche Räume hetzt. Unwirklich scheint auch Europas Nachkriegsgeschichte im zweiten großen Cannes-Film: In der epischen Dokumentation L'Avocate de la Terreur zeichnet Barbet Schroeder eine Historie der Konflikte anhand von Jacques Vergès, Strafverteidiger von Algerienkrieg-Attentätern, RAF-Terroristen und Nazi-Mörder Barbie. Der Advokat bleibt mysteriös, seine Verstrickung in Ideologien sorgt für ein packendes, unvorhersehbares Porträt. Er sei gefragt worden, ob er Hitler verteidigen würde, meint Vergès – und setzt hinzu: „Ich würde sogar Bush verteidigen, wenn er sich schuldig bekennen würde!“

U2: Auf dem Roten Teppich

Erstmals in der Geschichte des Filmfests Cannes spielte eine Rockband auf dem Roten Teppich vorm Festivalpalais: Vor der Premiere ihres Konzertfilms „U2 3D“ gaben U2 die Songs „Vertigo“ und „Where the Streets Have No Name“ zum Besten, enthusiastische Fan-Mengen dankten es Bono Vox et al. mit heftigem Schwenken ihrer Handys.

Die finnische Metal-Band Lordi, Songcontest-Sieger 2006, macht indessen in Cannes Promotion für ihr anstehendes Kino-Projekt: einen englischsprachigen Horrorfilm namens „Dark Floors“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2007)

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