Dieser Mann am Pult kann sogar Bilder ersetzen

Seine Wagner-Interpretation ist die beste seit Jahrzehnten: Was Thielemanns Kunst so auszeichnet.

Der „Thielemann“-Ring – so heißt die Bayreuther Produktion in den deutschen Medien, spätestens seit klar ist, dass auch bei der Wiederaufnahme von Tankred Dorsts Inszenierung keine Vertiefung und theatralische Kräftigung zu erwarten ist. Musikalisch freilich demonstriert ein großer Dirigent im Festspielhaus, wie wichtig die Funktion des Mannes am Pult in der Oper ist.

Er kann nicht nur die fehlenden Bilder tönend evozieren. Er kann auch beinah vergessen machen, dass eine keineswegs ideale Sängerbesetzung zur Verfügung steht. Fast alle Hauptpartien sind schwach bis mangelhaft besetzt. Und doch löst dieser „Ring“ von Abend zu Abend wachsendes Erstaunen aus – denn was aus dem verdeckten Orchestergraben dringt, schlägt alles, was in den vergangenen Jahrzehnten auch in Bayreuth an Wagner-Interpretation zu erleben war. Da werden Maßstäbe gesetzt, die Musikfreunde zu alten, sehr alten Live-Aufnahmen greifen lassen, um Vergleiche auf ähnlichem Niveau anstellen zu können.

Was zeichnet Thielemanns Kunst aus?

Für den „Ring“, das ist eine Binsenweisheit, braucht es Gefühl für weit ausgreifende Formen, organisatorisches Geschick, das viertel- bis halbstundenweise nicht abreißende Bögen zu spannen versteht. Doch Thielemann gelingt das Wunder, diese architektonischen Grundlagen aus unzähligen Miniaturen erstehen zu lassen, denn er setzt auf äußerste klanglich-farbliche Differenzierung, die Wagners oft von Takt zu Takt wechselnde Instrumentationsfinessen bis ins kleinste Detail auskosten.

Bis zum Zerreißen aufgeladen

So kommt es, dass die Innenspannung eineinhalbstündiger Akte von zwingender Intensität ist. Ob langsam anwachsende Riesensteigerungen – etwa die Verwandlungsmusik nach der Nornenszene oder Siegfrieds Trauermusik in der „Götterdämmerung“ – oder einzelne, minuziöse, gewöhnlich im Orchesterorkan untergehende Klangbotschaften: Große Linien wie einzelne Akkorde, einzelne Stimmen sind mit Expressivität bis zum Zerreißen aufgeladen.

Wagner, der Meister der Riesenform, wird im selben Atemzug als Ziseleur feinster Nuancen gewürdigt. Wie sich die Erregung der Musik der davonstürmenden Brünnhilden-Schwestern im dritten Akt der „Walküre“ noch in den Beginn des Finaldialogs zieht, wie ein einzelner Akkord im ersten Akt desselben Dramas Sieglindes Erzählung vom Siegschwert in ein plastisches Bild verwandelt, wie die ersten, scheinbar so versprengten Töne des „Siegfried“-Beginns sogleich energetische Spannung atmen, die bis zum Schlusstakt dieses so heikel auszubalancierenden Achtzigminüters nicht mehr abreißt, wie einander modernste, kühne Farbkombinationen und herrlich tönende, zutiefst romantische Klangzaubereien dramaturgisch schlagkräftig gegenüberstehen – all das macht aus vier Opernabenden Unvergessliches. Und niemand als Thielemann und das grandios disponierte Bayreuther Orchester sind – aus spürbarer Hingabe an Richard Wagner – deren Urheber. sin

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2007)

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