"Wir, Geiseln der SS": Eine Busfahrt ins Ungewisse

Uwe Bohm als SS-Untersturmführer Bader.
Uwe Bohm als SS-Untersturmführer Bader.(c) ORF
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Einfühlsam schildert der TV-Film "Wir, Geiseln der SS" das Schicksal der NS-Sonderhäftlinge - unter ihnen Ex-Bundeskanzler Kurt Schuschnigg.

Millionen Menschen starben bis 1945 in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Vergleichsweise wenig bekannt ist das Schicksal der sogenannten Sonder- und Sippenhäftlinge. Kurz vor Kriegsende wurden diese rund 130 Häftlinge im Konzentrationslager Dachau zusammengezogen. Unter ihnen befanden sich auch der ehemalige Wiener Bürgermeister Richard Schmitz sowie der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, seine Ehefrau Vera - die ihm freiwillig in die KZ-Haft gefolgt war - und seiner Tochter Maria-Dolores, die in Unfreiheit geboren wurde.

Zu seinen Mithäftlingen zählten prominente Gefangene, ausländische Militärangehörige, in Ungnade gefallene Wehrmachtsoffiziere und Widerstandskämpfer. Sie führten teilweise ein vergleichsweise priviligiertes Leben hinter Gittern. Sie durften nur auf ausdrücklichen Führerbefehl geschunden werden und hatten oft gute Haftbedingungen. Schuschnigg magerte etwa auf nur 40 Kilo ab, ehe er später bevorzugt behandelt wurde und im KZ Sachsenhausen über eine eigene Bibliothek sowie eine tägliche Flasche Wein verfügte. Doch mit einem Schlag wurde alles anders. Der einfühlsame TV-Film "Wir, Geiseln der SS" (zu sehen heute im ORF ab 22:45 Uhr, am Dienstag lief die Sendung auf arte) widmet sich nun ausführlich dem Schicksal dieser Häftlinge.

Was hat die SS mit den Gefangenen vor?

"Am 27. April 1945 war die Schonzeit zu Ende", schreibt "Der Spiegel" im Jahr 1967. "30 SS-Bewacher unter Führung des Obersturmführers Stiller verfrachteten die Häftlinge in Busse und auf Lastkraftwagen: insgesamt 99 Sonderhäftlinge, außerdem 38 sogenannte Sippenhäftlinge - darunter neun Stauffenbergs und sieben Goerdelers, die nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 inhaftiert worden waren."

Die Häftlinge - unter ihnen auch der italienische General Garibaldi, ein Enkel des Revolutionshelden sowie Neffen von Winston Churchill und des sowjetischen Außenministers Molotow - durchleben in der Folge Tage der Angst. Sie wissen nicht, was die SS mit ihnen vorhat. Sollen sie sterben oder als Pfand für Verhandlungen mit den vorrückenden Alliierten verwendet werden? Eine Frage quälte alle: "Begleiteten uns unsere Henker?", erklärte Richard Schmitz später.

Szene aus dem Film: Gefangen im Bus.
Szene aus dem Film: Gefangen im Bus.(c) ORF

Den Gefangenentransport leitet SS-Obersturmführer Edgar Stiller, begleitet von SS-Untersturmführer Ernst Bader, der keinen Zweifel daran lässt, dass er die Gefangenen am liebsten liquidieren würde. Es wird eine Busfahrt ins Ungewisse, die über den Brenner nach Südtirol in den Ort Niederdorf (Villabassa) führt. Als sich die Gelegenheit bietet, flieht keiner der Gefangenen - denn entkommt einer, müssen alle anderen sterben. Schließlich bleibt der Bus stundenlang vor dem Ort stehen, die Gefangenen befürchten das Schlimmste. Dann fasst sich der inhaftierte Wehrmacht-Oberst Bogislaw von Bonin ein Herz, schnappt sich Frauen und Kinder und marschiert mit ihnen bis in die Dorfmitte. Dort nehmen die Gefangenen sofort Kontakt mit der Zivilbevölkerung auf. Bonin hofft so, es den SS-Angehörigen schwer zu machen, die Sonderhäftlinge möglichst unauffällig zu töten.

"In der Nacht machte keiner ein Auge zu"

Tatsächlich werden die von der Südtiroler Bevölkerung herzlich empfangenen Gefangenen in Gasthöfen und im Pfarrhof einquartiert. Die Lage ist dadurch aber alles andere als entschärft. "In dieser Nacht", erinnerte sich von Bonin später, "machte keiner der Häftlinge ein Auge zu. Wir mussten die Frauen beruhigen, die schreckliche Angst hatten. Schuschniggs Tochter Maria-Dolores weinte unablässig." Es ist vor allem SS-Untersturmführer Bader, den die Gefangenen fürchten. "Obwohl er einen niedrigeren Rang als Stiller hatte, war er mit mehr Autorität ausgestattet", berichtet später der britische Offizier Jimmy James. "In SS-Begrifflichkeit hieß dies, dass er ein professioneller Killer war, der Liquidationsbefehle ohne Fragen ausführte."

Szene aus dem Film: von Bonin führt die Gefangenen in die Dorfmitte.
Szene aus dem Film: von Bonin führt die Gefangenen in die Dorfmitte.(c) ORF

Wieder ist es von Bonin, der am 29. April die Initiative ergreift. Heimlich verlässt er die Gruppe und telefoniert mit dem Oberkommando der Heeresgruppe C im hundert Kilometer entfernten Bozen. Er bittet die Wehrmacht um Hilfe, "sonst passiert hier eine große Schweinerei". General Hans Röttiger sichert ihm daraufhin Hilfe zu. Er schickt Hauptmann Wichard von Alvensleben aus dem nur 17 Kilometer entfernten Moos bei Sexten nach Niederdorf. Dort erfährt er von SS-Obersturmführer Stiller, dass es einen geheimen Exekutionsauftrag gibt, woraufhin sein Entschluss reift, die Häftlinge zu befreien. Als er am 30. April von Bader selbst erfährt, dass sein Auftrag erst erledigt sei, "wenn die Gefangenen gestorben sind", handelt von Alvensleben und schickt einen Stoßtrupp von 15 Wehrmachtsunteroffizieren nach Niederdorf. Die Soldaten bringen ein Maschinengewehr in Stellung. Kurz darauf treffen 150 Grenadiere als Verstärkung auf dem Dorfplatz ein. Die SS-Männer lassen sich schließlich davon überzeugen, aufzugeben und in Richtung Bozen abzuziehen.

Nicht für alle ist die Gefangenschaft zu Ende

Die Sonderhäftlinge stehen nun unter dem Schutz der Wehrmacht und werden in das neun Kilometer entfernte Luxushotel "Pragser Wildsee" ("Lago di Braies") gebracht. Schuschnigg wohnt mit seiner Familie im Zimmer 222. Am 4. Mai trifft die US-Armee vor Ort ein und entwaffnet die deutschen Wehrmachtssoldaten. Alle "unbelasteten" Gefangenen werden auf die Insel Capri verlegt, was einige als weitere Internierung empfinden, vor allem die Kinder nach all den Torturen aber wie Urlaub genießen.

Für einige Sonderhäftlinge wie Oberst von Bonin (er verbleibt zwei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft) und den ehemaligen Reichsbankpräsidenten und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht (er wird später bei den Nürnberger Prozessen als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, aber im Herbst 1946 freigesprochen) führt die Befreiung durch die Amerikaner aber zu einer erneuten Gefangenschaft.

Schuschnigg in Österreich nicht erwünscht

Schuschnigg, der eigentlich nach Österreich zurückkehren will, wird ebenfalls nach Capri gebracht. Dort muss er erfahren, dass nicht einmal seine einstigen Weggefährten seine Rückkehr wünschen. Der Ständestaatkanzler emigriert 1948 von Italien in die USA, wird dort Professor, nimmt sogar die US-Staatsbürgerschaft an und kehrt erst 1968 wieder nach Österreich zurück. Er betätigt sich nicht mehr politisch und verbringt seine letzten Lebensjahre in Tirol. Für den Bruch mit der demokratischen Verfassung, den er schon als Justizminister unter Engelbert Dollfuß systematisch herbeigeführt hat, wird er von der österreichischen Justiz nie zur Verantwortung gezogen.

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