Die Rhetorik der Erregung: Sex und Gewalt im Kunstgewand

Kleines Skandal-Journal: „300“ sorgte eben für kritische Erregung auf der Berlinale, mit „Battle in Heaven“ ist ein mexikanisches Musterbeispiel zum kalkulierten Festival-Skandalfilm im Kino.

Als 300 heuer bei der Berlinale lief, kam es bei der Pressevorführung zu unschönen Unmutsäußerungen: Buhrufe, Lachen, das vertraute Stakkato hochsausender Sitzflächen, während Kritiker fluchtartig und fluchend den Saal verließen. Ungewöhnlich dabei: Dass ein Mainstream-Film für Massenflucht sorgte, und dass der Ärger eher politisch (und ein wenig ästhetisch) motiviert war.

Denn das Geräusch hochklappender Sitze begleitet auf Festivals im Allgemeinen sperrige Kunstfilme: Quei loro incontri von den strengen Materialisten Straub/Huillet hatte 2006 in Venedig den Saal lange vor Ablauf seiner 68 Minuten bedenklich geleert. Lachen und Buhrufe begleiten eher die längst zur Festivalzirkus-Fixgröße gewordene Gattung „Skandalfilm“: Vorab vage via Branchenblätter gestreute Gerüchte künden von ungeahnter Schockwirkung, das entpuppt sich meist banal als Sex und/oder Gewalt im mehr oder minder anspruchsvollen Kunstgewand. Der „Skandal“ sorgt immerhin für Publicity sogar in rein starfixierten Medien.

Dabei muss er gar nicht wirklich stattfinden: Nachdem in Cannes 2002 Irr©versible, ein kalkulierter Reißer vom bösen Buben Gaspar No© uraufgeführt wurde, entnahm der Autor dieser Zeilen bei der Heimkehr mit Verblüffung diversen Gazetten, dass die minutenlange Vergewaltigungsszene um Monica Bellucci Ohnmachten und Notbehandlungen im Sauerstoffzelt nach sich zog. An der Croisette war nichts davon zu sehen gewesen – und unmöglich, das Sauerstoffzelt am angegebenen Ort aufzustellen.

Eine andere Form der Erregung begleitete ein Jahr später Vincent Gallos radikal reduziertes Road Movie The Brown Bunny: Hohn von sichtlich gelangweilten Journalisten, die nur sitzen blieben, weil vorab durchgesickert war, dass es gegen Ende eine Fellatio-Szene mit Chlo« Sevigny geben würde.

Diese sensationslüsterne Sogwirkung inspirierte vielleicht Battle in Heaven, den gerade gestarteten und vorsichtshalber gleich von zwei Fellatio-Szenen gerahmten zweiten Film des Mexikaners Carlos Reygadas. Aufgegangen ist die Rechnung: Zwar war die Cannes-Premiere 2005 ereignisarm, aber in der Berichterstattung war sie unweigerlich ein „Sexskandal“. Die Nacktheit und der Sex vor allem dicker Menschen (dazu, noch eine Prise Provokantes, der Pseudonym-Auftritt einer hübschen „Tochter aus gutem Haus“) sind aber ganz unerotisch. Sie bleiben rein rhetorisch wie der Versuch einer religiösen Parabel zu Schuld und Sühne. Da helfen Reygadas' bombastische Bilder und ausgeklügelte Kamerafahrten nichts: Battle of Heaven bringt das Kalkulierte des „Skandalfilms“ auf den Punkt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.