Festwochen: Konsequent in die Hölle auf Erden

"Aus dem Totenhaus". Boulez und Chéreau gestalten Musiktheater, wie es packender nicht sein kann.

Leos Janáseks „Aus einem Totenhaus“ ist ein Stück für Sonderproduktionen. Im Repertoire ist die Chance, dass das Abonnementpublikum viel Freude daran findet, sich 100 Minuten lang die Tristesse eines russischen Gefangenenlagers anzuschauen, gering. Wir durften das an der Volksoper studieren, wo einst eine sehr gute Produktion wenig Zuspruch fand. In Salzburg gab man das „Totenhaus“ unter Claudio Abbados Leitung in einer Inszenierung Klaus Michael Grübers, eine Aufführung, die als Legende gilt, obwohl Grüber wie so oft damals so gut wie nicht Regie geführt, sondern gar zu ästhetische Bilder gestellt hat.

Jetzt die Festwochen. Sie zeigen im Theater an der Wien eine Produktion, die Pierre Boulez musikalisch mit dem Mahler Chamber Orchestra und einem exzellenten Sängerensemble einstudiert hat. Das tönt so niederschmetternd, so verzehrend hoffnungslos, so ungeschminkt auf in Klang verwandelte Schmerzenslaute reduziert, dass Janáceks kompositorische Radikalität vom ersten Takt des Orchestervorspiels an erschreckend deutlich wird; vom ersten Rasseln der Ketten, die Janácek wie vor ihm nur Arnold Schönberg als Ausdrucksmittel verwendet. Die rastlosen Repetitionen der immer gleichen kurzen Motive, sie machen in früheren Janácek-Opern durchaus auch wohlig-warmen, im „schlauen Füchslein“ sogar humoristischen Effekt. Im „Totenhaus“ erleben wir die Tristesse und Brutalität, die hinter Gefängnismauern herrscht, die Willkür der Wächter, die Sticheleien und Aggressionen unter den Häftlingen. Und in den vier Monologen, die Janácek als Zentralpunkte seiner Opernakte setzt, verzweifelte Vergangenheitsbeschwörungen oder delirante Visionen, deren Exaltationen nur die Erzählenden selbst begreifen, während um sie die pechschwarze Realität zwischen den riesigen Betonmauern, die Richard Peduzzi auf die Bühne wuchten ließ, unbarmherzig weiter besteht.

Wo Janácek mildere, kurz sogar lichte Töne anschlägt, bleiben sie schmerzhaft ausgegrenzt aus dem Klang-Kontinuum, das dieses Werk wie ein Mahlstrom durchfließt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Hier ist sie längst zu Grabe getragen. Auch wenn zuletzt der besoffene Kommandant sich bei dem einzigen Gefangenen, der freigehen darf, entschuldigt, auch wenn der, von Jordi Casals phänomenal einstudierte Arnold Schönberg Chor vom davon fliegenden Adler träumt.

Jeder Häftling hat seine Geschichte

Patrice Chéreau erzählt die Geschichte, die keine ist, doch, entlang des Janácekschen Orchesterflußbettes. Man kann da neben dem vielen tauben Szenerie-Gestein, das Jahr für Jahr in Opernhäusern als „Inszenierung“ verkauft wird, lernen, was es heißt, Regie zu führen. Jede einzelne Figur, die da schleicht, sitzt, in Reih und Glied ihr Plätzchen sucht, hat ihr Profil, ihre Geschichte. Da sind welche, die können mit Fußfesseln schon Fußball spielen. Andere, die noch kaum gehen können. Da sind welche, die dumpf vor sich hin brüten, andere, die zwanghaft Kontakt suchen, und sei es als Aggressoren.

Das alles ist zu einem szenischen Arrangement verdichtet, das in seiner Perfektion sonst in der Regel nur von den allerbesten Produktionen Feydeauscher Farcen bekannt ist – sozusagen das Negativbild einer rasanten Komödie, die uns mit solcher Konsequenz in die Hölle auf Erden entführt, das der Zuschauer zuletzt nicht mehr sicher sein mag, ob er sich von diesen Bildern je wieder befreien wird können.

Im Rhythmus der Rücksichtslosigkeit

Ein paar beeindruckende Coups gönnt sich Chéreau auch. Am Beginn des zweiten Aktes fallen mit Getöse Unmengen von Müll vom Himmel, den die Gefangenen dann als Arbeitssklaven im entstandenen Staubnebel wieder einzusammeln haben. Doch die Stärke dieser Theaterarbeit ist die sensationelle kontrapunktische Verflechtung der Menschenschicksale zu Janáceks grundsätzlich nicht kontrapunktischer Musik. Womit sich wieder zeigt, dass exzellente Regisseure zuhören können müssen, um die klangliche Ebene mit szenischen Mitteln zu überhöhen, wo weniger musikalische Kollegen im besten Fall an ihr entlang inszenieren. Das Ensemble, Solisten, Choristen und Pantomimen erfüllen also Chéreaus aus Dostojewskis Text gespeisten Erzählfluss im Rhythmus der von Boulez und dem Mahlerorchester in der rechten Brutalität und Rücksichtslosigkeit gemeißelten Musik Janáceks.

Musiktheater, wie es idealer nicht sein könnte. Zumal Sänger von bemerkenswertem Expressions-Vermögen die großen Monologe bestreiten: John Mark Ainsley als Skuratow, Eric Stokloßa als Aleja, Peter Hoare als Schapkin und Gerd Grochowski als Schischkow, dessen Jugenderinnerungen an einen widerlichen Nebenbuhler einen röchelnden Mithäftling in den Tod treiben: Denn der vernahm da, unter falschem Namen inhaftiert, seine eigene Geschichte.

Heinz Zednik dazu als abgeklärt durch den Wald von Einzeltragödien wandelnder alter Gefangener, Susannah Haberfeld als Soldaten-Dirne die wenigen hellen Stimm-töne beisteuernd, Olaf Bär als „Politischer“, der zuletzt freikommt; Jirí Sulrenko als widerlicher Kommandant und alle, alle erfüllen ihre Partien mit jenem letzten, doch unverlöschlichen Rest an Lebensgeist, den Janárek meint, wenn er, Dostojewski zitierend, das Motto seiner Partitur voranstellt: „In jeder Kreatur ein Funken Gottes“.

ZUM STÜCK

Fjodor M.DostojewskI, der 1849 bis 1853 in Sibirien inhaftiert war, veröffentlichte 1860 seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Leos Jan¡sek machte 1927/28 daraus die Oper „Z mrtv©ho domu“.

Aufführungen: 14., 16., 18.Mai, 20 Uhr, Tschechisch mit deutschen Untertiteln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2007)

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