Interview mit Charles Taylor: „Die Christenheit stirbt“

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Der Philosoph Charles Taylor über die Unumkehrbarkeit der Säkularität, den Verlust des Bibelverständnisses und den Fall aus früheren Weltbildern.

Die Presse: Papst Benedikt XVI. sieht den Säkularismus unserer Tage geradezu als Sünde. In Ihrem Buch „A Secular Age“ sind Sie viel verständnisvoller: Die Entwicklung sei nicht umkehrbar. Folgen Sie als Katholik denn überhaupt noch dem rechten Glauben?

Charles Taylor: Ich verwende den Begriff Säkularität, der ist ein Faktum, kein Ismus. Schauen Sie sich die ungeheuren Möglichkeiten der Spiritualität heute an und vergleichen Sie die mit dem 18.Jahrhundert. Damals war die Welt nicht so synkretistisch wie die unsere. Das kann man nicht mehr ändern. Die Kirche muss lernen, in dieser Art von Welt zu operieren. Wir sind dem Römischen Reich näher als dem Mittelalter. Die Christenheit stirbt, nicht aber das Christentum, das ist sehr lebendig. Der Papst spricht über Säkularismus als Doktrin, da gibt es hunderte Variationen. Man kann sie nicht zusammenfassen, schon gar nicht mit dem Wort „Relativismus“. Ich sehe also die Welt nicht so, wie er sie sieht.

Was gewinnt man, was verliert man in dieser Entwicklung der Moderne? Gibt es auch gefährliche Entwicklungen der Aufklärung?

Taylor: Von Vorteil ist, dass man die Krücken verliert, von denen wir abhängig waren, weil alles außerhalb des Katholischen lächerlich gemacht wurde. Das Negative: Dass wir das Verständnis der Sprache der Bibel langsam verlieren. Sie ist so tief und spirituell, wir brauchen diese Ausdrucksform, aber diese Sprache verarmt bei uns. Das ist ein massiver Verlust. Zum Rationalen: Wenn sie zu eng gesehen wird, ist das schlecht. Zur Wahrheit gelangt man nicht allein auf diesem Weg, es gibt immer einen Rahmen, in dem man sich artikuliert, Logik und Empirie können ihn nicht ganz umfassen. Es kommt darauf an, wie tief eine Sprache greift, um die Welt zu begreifen. Dann können wir rationale Kritik aneinander üben, ohne jemals an einen klaren Ursprung zu kommen. Rationalismus ist immer auch mit einem bestimmten Standpunkt verbunden.

Ist die Wahrheit für Sie also symphonisch?

Taylor: Wir versuchen letztendlich, Fragmente zusammenzustückeln und dadurch die Welt zu begreifen. Am Ende sollte, glaube ich, alles zusammenpassen.

Der Dichter W. B. Yeats schrieb 1921 im Gedicht „The Second Coming“ prophetisch: „Things fall apart, the center cannot hold.“ Ist das auch noch unsere Situation?

Taylor: Das passiert ständig, wir fallen immer wieder aus früheren Weltbildern, die für uns Sinn ergaben, aber nicht so total wie in diesem apokalyptischen Gedicht.

Als einen der Wendepunkte, von dem es kein Zurück gab, der wesentlich für die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft war, beschreiben Sie die Einführung der Ohrenbeichte beim vierten Lateran-Konzil im Jahre 1215. Was war an dieser Maßnahme der Kirche so gefährlich?

Taylor: Die implizite Gefahr in solch einer Reformbewegung ist, dass man nicht versteht, was die Spiritualität des Volkes, die man auf Linie bringen möchte, wirklich ausmacht. Die Ohrenbeichte hat zu einer Klerikalisierung der Kirchen geführt, man wollte Kontrolle, verbot regionale Pilgerschaften oder gar den Karneval. Diese forcierte Mobilisierung unterdrückt spontanes religiöses Leben und entfremdet die Menschen. Es kann die Wirkung haben, dass man die Menschen aus den Kirchen vertreibt. Viele hohe Geistliche wissen das nicht, sie begehen die Sünde des Stolzes.

Sie sind ein Hegel-Interpret. Wenn dieser deutsche Philosoph heute von den Toten auferstehen würde, was ich nicht annehme, und unsere Welt sähe, was wäre seine Reaktion, vor allem in Bezug auf die Religion?

Taylor: Er wäre wohl total erstaunt. Er hat sich bei der Prognose leider in ein Eck gestellt, weil für ihn der große Niedergang der Religion zugleich auch einer der ganzen modernen Zivilisation gewesen wäre. Laut Hegel können die Wahrheiten der Philosophie, die nur von einer Minderheit durchdringend verstanden werden, von der gesamten Gesellschaft nur gelebt werden im Register der Religion. Ihr Verschwinden reißt solch ein großes Loch in sein Konzept, dass seine Reaktion nur schwer vorstellbar ist.

Richtet sich Ihr Buch über säkulare Zeit eher gegen Atheismus oder gegen Pessimismus?

Taylor: Es richtet sich weder gegen das eine noch das andere. Ich will nur verstehen, warum Menschen diese Haltungen einnehmen, was sie attraktiv macht.

Ihrer Meinung nach sollte Glauben immer offen sein für das Gespräch. Was sind die heißen Themen dieser Konversation?

Taylor: Wir alle müssen mit diesem aufdringlichen Pluralismus fertig werden. Leute, die ganz anders denken, leben heute in der gleichen Straße. Allein deshalb muss man mit ihnen im Gespräch bleiben.

ZUR PERSON

Der kanadische Politologe und Philosoph (Jg.1931), einer der wichtigsten englischsprachigen Denker, war Gast des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Berühmt sind u.a. seine Hegel-Studien (zum IWM siehe auch Seite 6).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2007)

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