Die Schweizer machen mobil

Montreux-Berner Oberland-Bahn. Es muss nicht immer Allrad sein – auch Panoramazüge, Zahnradbahnen und Trottinette führen an schön exponierte Plätze.

Angeblich sind es nur knapp siebeneinhalb Millionen Menschen, die das heutige Heidiland bevölkern und sich auf engem Raum zusammendrängen. Denn gut 70 Prozent des eidgenössischen Bodens bestehen aus schwindelerregenden Steillagen, auf denen allein Latschen, Steinböcke und Alphornbläser ihr Auslangen finden. Der Rest der angestammten Helvetier siedelt irgendwo zwischen Röschtigraben, Kuckucksuhren und Waldgrenze, stets versucht, das Beste aus diesem geografisch beengten Horizont zu machen.

Früher waren die Schweizer nicht sehr umtriebig – vor Erfindung des Allradantriebs mussten sie mindestens zwei Gebirgspässe überqueren, um miteinander ins Gespräch zu kommen –, dafür haben sie aber das Minigolfspiel erfunden. Heute aber führen sie ungeachtet der gebirgigen Hindernisse ein bewegtes Leben, das sie in mehr oder weniger vollen Zügen genießen: Der Schweizer verkehrt gerne und oft, am liebsten mit der Bahn.

1865 Kilometer reisen sie jährlich durchs Ländli, in Zügen, die ihrem Hang zu geordneten Verhältnissen aufs Beste entsprechen: Sie sind ebenso pünktlich, sauber und vorhersehbar wie die Schweizer selbst – und der perfekte Weg, um die vielfältige Schönheit dieser Nation zu erkunden. Vom Mittelmeerklima bis ins ewige Eis.

Nostalgietrip

Lautlos fährt der GoldenPassClassic in Montbovon ein. Von außen eine Hommage an den Orient-Express, von innen ein Revival der Belle Epoque in dezentem Türkis, das nach dem Besuch des Weinkellerwaggons allerdings schon ein wenig ins Blaue tendiert. Während draußen die gebirgigen Ausläufer der „kuhltivierten“ Käsehochburg La Gruyére vorübergleiten, türmen sich drinnen Berge von Trockenfleisch und Käsekreationen vor dem bequem gepolsterten Reisenden auf. Zugreifen und Genießen ist angesagt, denn die Qualität dieser Endprodukte glücklicher Kühe ist ebenso hoch anzusiedeln wie die idyllischen Almen, die der Zug gerade durchquert.

Geradezu berauschend ist der Ausblick auf Montreux, die Perle des Lavaux am Genfer See, ebenso berauschend der Einblick in die Gläser voller Chasselas, Gamay und Pinot Noir. Seit Jean-Jacques Rousseau mit seiner „La Nouvelle Héloïse“ die ersten Touristen an die Waadtländer Riviera gelockt hat, spielt sich hier so einiges ab: Musik liegt in der Luft, wovon nicht nur die Statue von Freddy Mercury an der Uferpromenade zeugt, sondern auch das jährliche Montreux Jazz Festival, das zu den größten und wichtigsten seiner Art zählt.

Miles Davis, Oscar Peterson und B.B. King gaben beim Jazz Festival schon den Ton an. Große Komponisten und Schriftsteller – Tschaikowski, Richard Strauss, Tolstoi – Leinwand- und Pop-Stars wie Sophia Loren und Michael Jackson waren Teil der illustren Runde in und um das luxuriöse Montreux-Palace.

Regelrecht beschaulich hingegen präsentiert sich das Château de Chillon, der ehemalige Sitz der Grafen von Savoyen, seinen Gästen. Angeblich das meistbesuchte historische Bauwerk der Schweiz, ist diese romantische Trutzburg nicht nur direkt am See gelegen, sondern auch von einem Wassergraben umgeben. Das Anwesen verführt darüber hinaus mit dem Clos de Chillon Grand Cru (einem bodenständigen Weißwein, der ausnahmslos im Schloss verkauft wird) zu noch tieferen Einblicken. Er kam dem kreativen Fluss von Gedanken, Worten und Pinselstrichen wohl sehr zugute, denkt man an Künstler wie Victor Hugo, William Turner, Alexandre Dumas oder Lord Byron, die diesem Château in ihren Werken ein Denkmal setzten.

Per Zahnrad zu Murmeltieren

Schwindelfrei sollte man schon sein, wenn man mit der Zahnradbahn die einstündige Fahrt nach Rochers de Naye antritt. Immerhin ist ein Höhenunterschied von mehr als 1500 Meter zu überwinden. Gute Nerven sind ebenfalls angesagt, denn streckenweise kommen im finsteren Tunnel dunkle Erinnerungen an Dürrenmatt auf. Doch Lokführer Antonio, dessen süditalienischer Charme aufs Beste mit der zusehends kargeren Landschaft kontrastiert, sorgt für eine sichere Ankunft auf der 1973 Meter hoch gelegenen Bergstation.

In beschaulicher Langsamkeit bezwingt dieses Bähnli Meter um Meter, vorüber am Château Chillon unten am See, vorüber an Horden waghalsiger Mountainbiker droben am Berg, vorüber am Institut für moralische Aufrüstung, dessen genaue Funktion sich niemand so richtig erklären kann. Aber was verstehen wir „frömden Fötzel“ schon vom Schweizer Seelenheil.

Droben auf dem Gipfel erwarten den staunenden Besucher dann aber keineswegs nur Murmeltiere, Alpenblumen und Höhenräusche, sondern auch mongolische Jurten mit Blick auf Schweizer Paradegipfel: Eiger, Jungfrau und Mont Blanc. Man kann in diesen originalen Filzzelten („Gers“) übernachten. Am Morgen begrüßt man neben der Stupa, errichtet von den Mönchen des tibetisch-buddhistischen Klosters Vevey, die aufgehende Sonne und feiert die Verschmelzung der Kulturen.

Adrenalin und Schokolade

Weniger Spirituelle schließen sich hier Rundgängen mit bezeichnenden Namen an: „Gänsehaut“ oder „Adrenalinschub“ versprechen tiefe Abgründe, Drahtseilakte und haarsträubendes Willhelm-Tell-Feeling beim Scheibenschießen.

Gebirgsluft macht hungrig, daher empfiehlt sich für die Heimreise der appetitliche Schokoladenzug, der bis an den Rand kalorischer Abgründe fährt. Endstation ist Broc, wo man nach Besichtigung der ansässigen Schokoladenfabrik ein etwas sportlicheres Programm absolvieren sollte, um wieder in Form zu kommen: Trottinettfahren in Bern etwa, eine neuerdings äußerst beliebte Freizeitbeschäftigung der Eidgenossen.

Es handelt sich wohl um eine Art Ausgleichssport zu den geordneten und kontrollierten Bahnen des Lebens, denn auf dem Tretroller geraten diese gemächlichen Menschen außer Rand und Band. Als Fortbewegungsmittel durch die Hauptstadt ist das Trottinett nachgerade ideal. Lockeren Schrittes rattert man vorbei an Käfigturm, Zytglogge und Einsteinhaus. Es rumpelt übers Kopfsteinpflaster, dass Funken und Fußgänger nur so springen. Und der Adrenalinspiegel klettert auf Höhen des Matterhornmassivs. Erst knapp vor dem Bärengraben kommt die wilde Jagd zum Stehen. Hurra, wir leben noch.

UNTERWEGS zwischen Mittelmeerklima und ewigem Eis

Schweiz Tourismus: www.myswit-zerland.com, T 01/513 26 40, Veranstalter u.a.: Spezialzüge bei Railtours Austria, www.railtours.at
GoldenPassLine: Montreux-Berner Oberland-Bahn. Verschiedene Züge, verschiedene Strecken. Hauptstrecke von Montreux über Les Avants, Montbovon, Rossinière, Château-d'?x, Rougemont, Saanen, Gstaad und Zweisimmen in die Lenk. Tipp: Fahrt mit der Zahnradbahn nach Rochers de Naye, mit ÜN in einer Jurte. www.mob.ch
Hotel Montreux-Palace:
Luxus pur. www.montreux-palace.com
Hotel Ermitage
(Montreux): klein, fein. T 0041/21/964 44 11
Zibelemärit – Zwiebelmarkt
(Bern):Am vierten Montag im November www.cityhunter.ch
Hotel Innere Enge
(Bern): Histo-rischer Pavillon; darunter „Marians Jazzroom“. www.zghotels.ch

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2007)

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