Wenn das Vakuum sich ewig bläht

„Boltzmann Brains“ im Meta-universum: Kosmologen denken über seltsame Wesen nach.

Die Welt, wie wir sie beobachten, hat ihre Tücken; wenn man nicht aufpasst, kann man sich sogar im Wienerwald verirren und kommt unversehens statt nach Neuwaldegg nach Hütteldorf, das ja irgendwie ein seltsamer Attraktor ist...

Aber lassen wir das, das ist ein Wort der Chaostheorie, und die war gestern. Heute debattieren die Kosmologen lieber darüber, wie ein typischer Beobachter des Universums aussieht. Nun, er hat meist zwei Augen und vor einem ein Fernrohr, werden Sie ganz anthropozentrisch sagen – und sich über die Frage hinwegschwindeln, ab welchem Bewusstseinsgrad ein Lebewesen als Beobachter gelten darf.

Die Kosmologen erwägen derzeit die Existenz ganz anderer Beobachter: Wesen, die keiner Evolution (und auch keiner Schöpfung) entsprungen sind, sondern einer Fluktuation des Vakuums. Aus diesem können ja, der Unschärferelation sei Dank, jederzeit Paare von Teilchen entstehen und wieder vergehen. Das geschieht auch, zumindest rechnet die Quantenfeldtheorie erfolgreich damit.

Mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit – daher viel seltener – können auch größere, komplexere Strukturen aus dem Nichts entstehen, meinen die theoretischen Physiker. Und sehr, sehr, sehr selten auch Strukturen, die so komplex sind, dass sie als Beobachter fungieren können: Darüber zerbrechen sich derzeit führende Kosmologen die Köpfe. Sie sprechen – nach einer Grübelei von Ludwig Boltzmann (1844–1906) – von „Boltzmann Brains“ und fragen allen Ernstes: Kann es sein, dass es jemals mehr solche Beobachter gibt als „normale“ Beobachter unseren Schlages?

Nicht hier und jetzt natürlich, sondern in einer fernen Zukunft, in der das Universum kalt, leer und schwarz ist, in der alle Atome längst zerfallen sind und die beschleunigte Expansion des Raumes – mit der wir uns seit 1998 laut Kosmologie abfinden müssen – trotzdem munter weitergeht. In der ein solches aus dem Nichts entsprungenes „Boltzmann Brain“ also so gut wie nichts zu beobachten hätte: verdammt zum Solipsismus.

Wie man es dann als Beobachter bezeichnen kann? Egal, wild spekulierende Kosmologen schert das nicht. „In den sich auf ewig aufblasenden (inflating) Vakua sind Beobachter mit unendlich größerer Wahrscheinlichkeit Boltzmann Brains als ehrliche Leute wie wir“, schreiben etwa Raphael Bousso und Ben Freivogel (Berkeley) in einer im Web nachzulesenden Arbeit (arXiv:hep-th/0610132v2).


Das Match geht auch deshalb zu Gunsten der armen Boltzmann-Hirne aus, weil die aktuelle (und mit großem Ernst diskutierte) Inflationstheorie, „eternal inflation“ genannt – gelegentlich befeuert von der Superstringtheorie, die derzeit 10500 verschiedene Arten von Vakua zulässt –, ein sich für immer ausdehnendes „Multiversum“ behandelt, das kraft der Kreativität des Vakuums eine unendliche Anzahl von ihrerseits ewigen Universen hervorbringt, die jeweils wieder unendlich viele Universen gebären usw. usw. Unendlich ewig mal unendlich ewig mal unendlich ewig usw., da ist dann schon (womöglich absolute) Zeit und Platz für seltsamste Zufallsprodukte...

Fast, aber nur fast wie Selbstironie mutet es an, wenn manche Kosmologen statt „Multiversum“ neuerdings „Metauniversum“ sagen. Sie könnten auch sagen: Jenseits.


thomas.kramar@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.