Es regiert das Mittelmaß

Ein Jahr nach der Wahl: Dank der globalen Hochkonjunktur kann sich Österreich die Koalition leisten.

Unaufgeregtheit, wohin man blickt. An den Universitäten funktioniert die Gebäudereinigung ohne nennenswerte Pannen, die Lehrveranstaltungen finden im Großen und Ganzen pünktlich statt, und wenn einmal Angebot und Nachfrage zu weit auseinander klaffen, greift Väterchen Staat in der Person des Wissenschaftsministers gütig lenkend ein und limitiert die Studienplätze. Nicht nach inhaltlichen Überlegungen, nicht in die Zukunft gedacht. Pragmatisch. Provisorisch. Und selbstverständlich unter wortreicher Beschwörung der freien Uni-Zugangs.

Das gehört zur österreichischen Tradition. Wir sind und bleiben neutral, obwohl wir wissen, dass unsere Sicherheit während des Kalten Kriegs nicht durch die Neutralität, sondern durch die Nato gewährleistet wurde. Also bekennen wir uns auch zum freien Uni-Zugang, obwohl wir wissen, dass er während der vergangenen Jahrzehnte nicht die erwünschte soziale Mobilität gewährleistet, sondern im Gegenteil die Vererbung von Bildung zementiert hat.

Österreichische Politiker haben Übung darin, solche Widersprüche nicht als Nachweis inkonsistenten Denkens, sondern als Musterbeispiel politischer Intuition zu verkaufen. Wer das den Bürgern lange genug einredet, glaubt es auch selbst irgendwann. So entsteht in der Politik das Phänomen des „ehrlichen Lügners“, das ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an moralischer Entlastung darstellt: Wirklich lügen kann ja nur einer, der weiß, wovon er spricht.


Ähnliches gilt für die Einkommensentwicklung. Die Stagnation der Realeinkommen hat zwar mindestens so viel mit einer brutal falschen, weil leistungsfeindlichen Steuerpolitik zu tun wie mit dem brutalen Turbokapitalismus. Wir bleiben dennoch dem Mythos treu, dass die letzte Steuerreform nur die bösen Unternehmen reicher und die guten Werktätigen ärmer gemacht habe, und dass jetzt endlich einmal was für die schwächeren Einkommen getan werden müsse. Dass letztere seit geraumer Zeit de facto steuerfrei sind, muss einen österreichischen Sozialpolitiker, der auf sich hält, überhaupt nicht irritieren: In der Welt des ehrlichen Lügners stellt das nicht einen faktischen Widerspruch dar, sondern einen besonders eindrücklichen Beweis vorbildlicher Gesinnung. Erwin Buchinger, der deklarierte Linke, scheint es da ganz mit Franz Josef Strauß, dem leidenschaftlichen Rechten, zu halten: Man muss seine Grundsätze so hoch halten, dass man aufrecht unter ihnen durchgehen kann.

Mit Blick auf den 1. Oktober, den Jahrestag der Nationalratswahl 2006, die uns die große Koalition beschert hat, muss man wohl sagen: Leider können wir uns diese schlechteste aller Regierungskonstellationen derzeit leisten. Das Land segelt relativ bequem auf der Welle der internationalen Konjunktur dahin, was mit eklatanten Fehleinschätzungen von Regierungspolitikern in Bezug auf ihren eigenen Beitrag zu dieser Entwicklung einhergeht.


Die so genannten Parteistrategen, die sich für die Fährnisse der wirklichen Welt traditionsgemäß eher unzuständig halten, konzentrieren sich auf die Aufrechterhaltung des permanenten Wahlkampfs. Die groß angekündigten Strukturreformen, mit denen man den Bürgern die Notwendigkeit der großen Koalition erklärt hat, sind nicht einmal in Spurenelementen nachweisbar. Wer heute Reformen einfordert, wird von denselben Leuten als Krankjammerer denunziert, die noch vor etwas mehr als einem Jahr erklärt hatten, dass die Republik ohne radikale Reformen in den Abgrund taumeln würde. Es regiert das selbstzufriedene Mittelmaß.

In einer solchen Situation wird jeder, der sich Gedanken über eine Weiterentwicklung des Landes in Richtung Dynamik, Weltoffenheit, Risikobereitschaft und Eigeninitiative anstellt, zum miesepetrigen Störenfried. Etliche Mitglieder der Perspektivengruppe, die die ÖVP als Schocktherapie gegen die unerwartete Wahlniederlage vor einem Jahr ins Leben gerufen hat, haben diese Erfahrung bereits gemacht. Man darf gespannt sein, was Josef Pröll, der sich mit der Zuspitzung dieser Konzeptarbeit auf seine eigene Person weit aus dem Fenster gelehnt hat, seiner Partei zuzumuten bereit ist. Wenn die vorab bekannt gewordenen Positionen zum Thema Universitäten die Messlatte für die programmatische Sprungkraft der konservativen Regierungspartei sein, wird man am Montagabend im Happelstadion der Präsentation eines Sitzriesen beiwohnen dürfen. Wenn nicht, könnte das der Beginn einer substanziellen Programmdiskussion wenigstens innerhalb der ÖVP sein. Immerhin.


michael.fleischhacker@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2007)

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