Gratwanderung über den Rücken des Volkes

Die Frage einer neuen EU-Volksabstimmung ist juristisch zu beantworten. Doch das reicht nicht.

Manchmal zerreißt es einem das Herz: Speziell wenn eine Seite europäisch und die andere demokratisch schlägt. Denn beides erscheint manchmal wie ein unauflösbarer Widerspruch. Die EU ist zwar nicht undemokratisch, weil in ihren Gremien indirekt gewählte (von den nationalen Parlamenten bestellte) Politiker und ein direkt gewähltes Europaparlament entscheiden. Aber Brüssel ist doch sehr weit weg vom Einflussbereich des eigentlichen Souveräns: des Volkes, sodass ein mulmiges Gefühl in der Magengrube bleibt.

Das ist mit ein Grund, warum auch jetzt alle in der Defensive sind, die sich dieser Tage gegen eine Volksabstimmung zum neuen EU-Vertrag aussprechen. Denn abgesehen von allen juristischen Bewertungen, ist doch einfach die Frage zu stellen: Warum nicht? Wenn dieser Vertrag wichtig und gut ist, wenn alle ein reines Gewissen haben, warum soll dann nicht das Volk darüber entscheiden?

Das Problem ist aber, dass diese Logik in beide Richtungen gilt: Würden unsere nach Brüssel entsandten Politiker immer die Wahrheit über ihr Tun erzählen, hätten wir wohl das Bedürfnis nach Einflussnahme gar nicht so stark. Würden umgekehrt die sogenannten Kritiker daheim die Union nicht ständig mit irgendwelchen Falschaussagen verunglimpfen, wären wir auf dem Weg in Richtung einer gemeinsamen europäischen Demokratie ebenfalls ein gutes Stück weiter. Beide Seiten sind dafür verantwortlich, dass ein hässlicher Graubereich entstanden ist, der auch die legitime Transparenz gegenüber dem Volk vernebelt.

Der neue EU-Vertrag wird bis auf eine Ausnahme – die künftigen Mehrheitsentscheidungen über Fragen von Justiz und Innerem – keine wesentliche Übertragung von Souveränitätsrechten an die Gemeinschaft bringen. Alle restlichen Argumente für eine Volksabstimmung sind Humbug: Eine Militärunion wird dadurch ebenso wenig Realität werden wie eine Union, die uns die Atomkraft aufzwingen oder das Wasser abgraben kann.

Der Reformvertrag ist kein Meilenstein der politischen Integration Europas, sondern lediglich ein Kiesel auf diesem Weg. Er bringt gerade so viel, um das weitere Funktionieren der Union mit 27 Mitgliedern zu gewährleisten. In diesem Sinne ist auch die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen zu verstehen. Es ist die einzige Möglichkeit, unter so vielen Mitgliedstaaten überhaupt eine Einigung zu finden. Das Veto jedes einzelnen Landes in wichtigen Fragen wie etwa des gemeinsamen Budgets oder der Aufnahme neuer Mitglieder bleibt bestehen.

Juristisch spricht vieles gegen eine Volksabstimmung. Aber damit darf die momentane Debatte nicht abgewürgt werden. Irgendwann müssen nicht nur Recht, sondern auch Emotionen abgearbeitet werden. Die Trennlinie zwischen Befürwortern und Gegnern einer Volksabstimmung zum neuen EU-Vertrag verläuft ja nicht bloß zwischen unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Sie verläuft vor allem zwischen EU-Befürwortern und Regierungsvertretern, die heilfroh sind, diesen mühsamen Kompromiss endlich im Kasten zu haben, und jenen, die aus teilweise ganz anderen Gründen der EU skeptisch gegenüber stehen. Hier geht es nicht nur um den Vertrag, hier geht es auch um vieles andere.

Und das ist der Punkt: Versperrt sich die Regierung einer offenen Debatte über die Notwendigkeit einer Volksabstimmung, ruiniert sie damit das Image der Europäischen Union in Österreich noch weiter. Denn sie überlässt das Feld völlig jenen, die diese Debatte für ihren nationalistischen Anti-EU-Kurs ausnutzen. Wenn beispielsweise – wie am vergangenen Sonntag, kein ÖVP-Regierungsmitglied bereit ist, an einer Fernsehdiskussion über den Reformvertrag teilzunehmen, wird das Feld leichtfertig Jörg Haider, Andreas Mölzer und der Kronen Zeitung überlassen.

Das ist der objektive Teil der Geschichte, der andere ist ein persönlicher. Denn nun heißt es für jeden Teilnehmer dieser Debatte, Farbe zu bekennen und nicht mutlos das Weite zu suchen.

Ich fange hier an: Ich bin derzeit gegen eine Volksabstimmung zum Vertrag. Zum einen, weil es keine wirklich verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten dafür gibt. Zum anderen, weil die öffentliche Debatte von allen Seiten – Befürwortern wie Gegnern – in eine Richtung läuft, die mit diesem Vertragstext wenig zu tun hat. Es ist mir aber auch bewusst, dass ich hier eine pragmatische, juristische Haltung über meinen demokratischen Instinkt stelle.


wolfgang.boehm@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2007)

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