Die Mär von der Wissensgesellschaft

Nichts ist verdächtiger als das Plausible.

Das Etikett „Wissensgesellschaft“ unterstellt einen fundamentalen Strukturwandel zu einer neuen Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mag sein, dass wir Zeugen einer umgreifenden Änderung sind, doch der Name „Wissensgesellschaft“ passt dafür nicht. Eher sind Epitheta wie „Erlebnisgesellschaft“, „Willkürgesellschaft“, „Beliebigkeitsgesellschaft“, „Informationsgesellschaft“ geeigneter – ich will mich darin nicht festlegen. Aber die Bezeichnung „Wissensgesellschaft“ dürfte auf einem zweifachen Irrtum beruhen.

Einerseits ist nichts verkehrter als die Annahme, erst jetzt würde Wissen ein bestimmendes Element in der Entwicklung unserer Kultur und Zivilisation sein. Das war im Gegenteil schon immer der Fall. Vom Standpunkt eines Historikers des Jahres 3000 aus gesehen, werden die Namen von Michael Faraday, James Clerk Maxwell, Justus von Liebig, Marie Curie als glanzvolle Beispiele für wegweisende Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts genannt werden, weil sie mit ihrem Wissen entscheidend zur Entwicklung der Industriegesellschaft beitrugen. Die Namen der zu ihrer Zeit lebenden Herrscher und Feldherren werden hingegen ebenso verblassen, wie auch wir kaum mehr die Schlachtenführer Cyaxares oder Alyattes um 585 v. Chr. kennen, wohl aber Thales von Milet, der mit seinem Wissen den Letztgenannten der beiden beraten hat und uns bis heute wertvolles Wissen hinterließ. Nicht erst Francis Bacon war von der Macht des Wissens überzeugt, dies war schon lange vor ihm der Diadoche Ptolemaios Soter, der zu seinem ewigen Ruhm das Museion von Alexandria, das Vorbild aller Eliteuniversitäten der Welt, gründete.

Andererseits ist es eine geradezu barocke Illusion, wenn behauptet wird: Da nun jeder aus Wissen Nutzen ziehen könne, nütze es auch jeder. Dem Wissen seien keinerlei Grenzen des Wachstums gesetzt. Es sei nicht mehr modern, Stahlarbeiter, Friseuse oder Elektriker zu sein, heutzutage werde der Webdesigner, die Architektin oder der Manager weitaus mehr akzeptiert und geachtet – und dies sei ein untrügliches Symptom für die gesellschaftliche Wertschätzung der Wissenden, die es früher nicht gegeben hätte.

All das ist abgrundtief falsch: Es gibt durchaus erfolgreiche Webdesigner, die strohdumm sind, genauso wie es blitzgescheite Friseusen gibt. Die dämlichen Worte von der „Wissensexplosion“ und der „Halbwertszeit des Wissens“ – bezeichnenderweise den Ingenieuren von Atombomben abgelauscht – werden von denen geführt, die noch nie die Melancholie einer riesigen Barockbibliothek in sich aufnahmen: Regale voll von akribisch verfassten Büchern, die schon damals kaum jemand gelesen hatte, voll von vergessenem Wissen. Und ja, es stimmt: Gigantische enzyklopädische Lexika wie Wikipedia stehen jedem offen. Aber diese elektronischen Monster sind keine Zeugen der Vermehrung von Wissen, bloß der Vermehrung von Daten.

Weil Wissen einfach viel mehr ist als bloße Kenntnis von Fakten. Denn andernfalls würde die Internet genannte Informationshalde nur so vor Wissen strotzen. Doch sie ist ein Müllhaufen, der ein paar wertvolle Perlen im überbordenden Schrott des Beiläufigen verbirgt. Dieses Wertvolle auffinden zu können verlangt nach Wissen, es ist anstrengend und keineswegs alle wollen sich darauf einlassen.

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space im Wiener Museumsquartier.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2007)

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