Die Mär, die Welt sei berechenbar

Keine Sicherheit ist in Sicht. Nirgendwo und niemals.

In einem dieser Tage erscheinenden, sehr lesenswerten Buch antwortet Kardinal Schönborn eingehend und freimütig auf eine Fülle von Fragen, die Barbara Stöckl – nur wenige wissen, dass diese Journalistin zugleich studierte Technische Mathematikerin ist – präzise zu formulieren versteht. „Wer braucht Gott?“, lautet eine dieser Fragen, die im Verlauf des ersten Kapitels („Die Gretchenfrage“) gestellt wird. „Wer braucht Gott?“, so lautet der Titel des ganzen Buches.

„Ich brauche ihn nicht mehr, nicht einmal als Hypothese“, behauptete vor gut 200 Jahren Pierre Simon Laplace, nachdem es ihm gelungen war, Störungen des Planetensystems durch Jupiter und Saturn als harmlos zu entlarven. Newton hatte noch „Gott gebraucht“, denn er meinte, dass nur durch den Eingriff des Allmächtigen die Stabilität des Planetensystems gewahrt bleibt. Laplace ersetzte Newtons theologische Lösung dieses Problems durch eine mathematische.

Die Hoffnung, alles durch Kalkül verniedlichen zu können, ist uralt. Peter von Matt schrieb aus Anlass der diesjährigen Salzburger Festspiele (Motto: „Die Nachtseite der Vernunft“), darüber einen brillanten Aufsatz: Als noch der Teufel hinter dem Weltgeschehen vermutet wurde, meinten viele nach dem Vorbild des Max aus dem Freischütz oder des Faust, mit ihm ließe sich ein Pakt aushandeln. Woran er sich auch halten würde.

Eine Wahnidee, mit dem Teufel rechnen zu wollen. Dennoch bleibt in der Moderne diese Geisteshaltung maßgebend: Alles in der Welt sei im Grunde berechenbar; Unglücksfälle gründeten eigentlich auf Rechenfehlern, auf Unachtsamkeiten. Den Teufel ersetzt ein „Laplacescher Dämon“, ein von Laplace erdachtes extrem intelligentes Wesen, das die Zustandsgleichungen aller Atome des Universums zu lösen verstünde und in der Lage wäre, alles vorauszuberechnen. Kein noch so verworrenes Ereignis in der Welt bliebe seinen Augen verborgen. Heute wissen wir: Auch der Laplacesche Dämon ist Chimäre. Für Gläubige an die Berechenbarkeit der Welt kein Grund zu verzagen: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, auch von Laplace vorangetrieben, bietet mächtigen Ersatz. Eine florierende Industrie von Versicherungen belegt dies mit ihrem Erfolg: „Dieser Tod ist so sinnlos“, klagt der Vater eines Unfallopfers. Während sein Anwalt Millionen verlangt. Genau kalkulierte Zahlungen kompensieren Schicksalsschläge und Katastrophen. Sind die Prämien errichtet, rentiert sich für beide Seiten das Geschäft. Eine von der Mathematik der Wahrscheinlichkeit konstruierte künstliche Welt wird über die ursprüngliche gestülpt, um Kataklysmen als Zufälligkeiten zähmen zu können.

Hiob konnte mit seinem Gott noch hadern. Doch heute scheinen die Klagen der vom Schicksal Getroffenen gegen den Himmel ungehört zu verhallen. So bleibt als müder Ersatz nur das Klagen im Rahmen der irdischen Justiz, die nach Heller und Pfennig zu entschädigen weiß. Vermag sie deshalb den Schmerz zu lindern? Oder bleibt der wahre Trost aus? „Braucht“ man deshalb Gott? Oder ist diese Frage, aller Unberechenbarkeit der Welt zum Trotz, blasphemisch? Aus dem oben genannten Buch kann man erfahren, wie Österreichs höchster Repräsentant der katholischen Kirche darüber denkt.

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space im Wiener Museumsquartier.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2007)

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