Volkskrankheit Sucht: 1,4 Millionen betroffen

20 Prozent der Erwachsenen sind suchtkrank. Nur 20.000 davon entfallen auf Konsumenten illegaler Drogen. "Sucht ist eine schwere Krankheit, und nicht bloß ein schlechtes Verhalten.“

Wien. Experten schlagen Alarm: Sucht ist nicht länger das Stigma von Randgruppen, sondern Volkskrankheit geworden. Das Ausmaß zeigt eine aktuelle Berechnung des renommierten Wiener Anton Proksch Instituts (API). 20 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahre, das sind 1,4 Millionen Menschen, sind suchtkrank. „Nur“ 20.000 davon entfallen auf Konsumenten illegaler Drogen.

Wird die Gefahr unterschätzt? „Was die Wissenschaft seit Jahrzehnten weiß, hat sich in der Bevölkerung noch nicht herumgesprochen: Sucht ist eine schwere Krankheit, und nicht bloß ein schlechtes Verhalten“, sagt Michael Musalek, Leiter des API. Es gibt also eine Sucht abseits der Drogen.

Der Vergleich mit anderen chronischen Erkrankungen zeigt die Dimension. Die letzte Gesundheitsbefragung der Statistik Austria (1999) wies Bluthochdruck und Wirbelsäulenschäden mit jeweils fünf Prozent Anteil als die am weitesten verbreiteten Krankheiten aus. Suchterkrankungen wurden damals gar nicht erfasst.

Die Binsenweisheit, dass Sucht eine Charakterschwäche sei, löst bei Musalek aus einem weiteren Grund Besorgnis aus. „Der Glaube, dass nur Randgruppen von Sucht bedroht sind, erhöht die Gefahr, selbst zu erkranken.“ Bricht die Erkrankung trotzdem aus, trauen sich nur wenige, das zuzugeben und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Doch was ist Sucht überhaupt? Die Medizin unterscheidet stoffgebundene und stoffungebundene Süchte. Unter stoffgebundener Sucht versteht man die Abhängigkeit von Substanzen (Alkohol, Nikotin, Heroin). Bei stoffungebundenen Süchten besteht Abhängigkeit gegenüber einem Verhalten (Glücksspiel, Konsum, Sex). Laut aktuellem Forschungsstand liegt eine Erkrankung dann vor, wenn zumindest drei von fünf Kriterien wie Kontrollverlust oder Entzugserscheinungen auftreten.

Damit Sucht ausbricht, genügt es nicht, eine Substanz zu konsumieren oder am Roulette-Tisch zu sitzen. Als Beweis dafür sieht die Wissenschaft das Fakt, dass 98 Prozent der Bevölkerung Kontakt mit Alkohol haben, aber „nur“ fünf Prozent Alkoholiker sind. Fast immer geht mit dem Ausbruch der Sucht schweres psychisches Leid einher (Depressionen, Schicksalsschläge, etc.). Der Teufelskreis schließt sich erst dann, wenn der Patient mit Hilfe einer Substanz oder Verhaltensweise mit Suchtpotenzial versucht, den Problemen zu entfliehen.

Sucht-Suche im Gehirn

Im Gehirn geschieht der Ausbruch stoffgebundener und stoffungebundener Süchte übrigens ähnlich. Vergangenes Jahr entdeckte ein Forscherteam rund um den Innsbrucker Pharmakologen Gerald Zernig-Grubinger, dass dabei jene Bereiche des Hirns stimuliert werden, die für das positive Empfinden für Nahrungsaufnahme, Geborgenheit und Sexualität verantwortlich sind.

Der zweite Teil der „Presse“-Sucht-Serie erscheint am Dienstag. Thema: Harte Drogen.

www. suchtforschung.at

Inline Flex[Faktbox] SUCHT-SELBSTCHECK("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2007)


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