Gesunde Ernährung – verzweifelt gesucht

Acht Thesen zu Ursachen, Hintergründen und Auswirkungen unseres Umgangs mit dem Essen. Die Folgekosten von Übergewicht für Österreich werden auf 1,37 Milliarden Euro jährlich geschätzt.

Wenn man Mäuse so ernährt, wie sich manche US-Amerikaner ernähren, dann legen sie in acht Wochen ein Viertel an Gewicht zu und ihre Lebern zeigen die ersten Anzeichung von Verfettung, auch Vorformen des Diabetes werden entwickelt. Das hat Brent Tetri, Leberspezialist an der Saint Louis University, kürzlich in einem Versuch gezeigt. „Wir waren erstaunt, wie schwer die Schäden sind und wie rasch sie kommen“, berichtet er der „Presse“. Neu an seinen Ergebnissen ist die Wirkung auf die Leber, weniger neu ist, dass die „westliche Diät“ bzw. die „westliche Lebensweise“ die Menschen fettleibig macht – und dass die Fettleibigkeit ihnen die „westlichen Krankheiten“ bringt, Herzleiden, Diabetes, Fettleber.

Übergewichtig bis fettleibig sind heute zwei Drittel der US-Amerikaner, aber die Zunahme grassiert überall dort, wo der westliche Lebensstil einkehrt: Weltweit sind eine Milliarde Menschen überernährt – das sind mehr, als es Unterernährte gibt –, das Phänomen zeigt sich seit den Siebzigerjahren, 1997 hat ihm die Weltgesundheitsorganisation einen Namen gegeben: „Fettleibigkeits-Epidemie“.

Sie kommt von der Lebensweise, aber welche Faktoren sind entscheidend? Tetri hat sich bei der Ernährung auf zwei konzentriert, auf Fett und Zucker, präziser Trans-Fette und Fruktose, übersetzt: Fast Food und Softdrinks.

Aber man hat nicht nur einen Energie-Input – die Ernährung –, man hat auch einen Output, die Bewegung: Die Mäuse im Test hatten einen „sesshaften“ Lebensstil, wenig Gelegenheit zur Bewegung. „Ich glaube, es liegt an der Kombination der Faktoren“, erklärt Tetri.

Warum wird bei den Mäusen alles viel rascher schlimm als bei den Menschen? Weil doch nur wenige Menschen sich so ernähren wie Morgan Spurlock, der in seinem Dokumentarfilm „Supersize me“ 30 Tage lang nur zu McDonalds ging – morgens, mittags, abends – und sonst keinen Schritt.

These 1: Übergewicht ist nicht monokausal zu erklären. Deshalb gibt es auch keine Wundermittel.

Wie bei allen Leiden spielen Erbanlagen (Gene), Umwelt und Lebensweise zusammen. Versuche, einen Generalschlüssel für das Geschehen zu finden, sind bisher fehlgeschlagen und werden das auch weiter tun. Allerdings gibt es eine Ultima Ratio: die operative Verkürzung des Darms. 100.000 US-Amerikaner unterziehen sich pro Jahr dieser Prozedur, 40 Millionen sind so übergewichtig, dass sie unter die für diese Operation geltenden Kriterien fallen.

These 2: Der genetische Hintergrund ist unklar. Man weiß nur, dass viele Gene mitspielen und füreinander einspringen.

Zwei große Gen-Gruppen sind bei der Ernährung entscheidend: Auf der einen Seite die Gene, die für die Verwertung der Nahrung sorgen. So gibt es Ausprägungen von Genen, die ihre Träger zu besseren Energieverwertern machen, weil sie bewirken, dass mehr Energie als Wärme „verpufft“. Auf der anderen Seite die Gene, die dem Gehirn melden, wann der Körper satt ist. Vor allem auf diese Gene bzw. ihre Proteine stützten sich große pharmakologische Hoffnungen, seit das erste dieser „Sättigungs-Hormone“ entdeckt wurde: Leptin. Mit zusätzlichen Leptin-Gaben wollte man den Hunger stillen, aber es gelang nicht, weil viele andere Stoffe mitspielen, Insulin, NPY, es gibt auch ein Dutzend „Hunger-Hormone“, Ghrelin etwa. Wann immer man eines abschaltet oder verstärkt, springen andere ein. Ähnlich erfolglos ist das Beeinflussen von Genen, die bei der Verwertung der Nahrung mitspielen.

These 3: Entscheidend ist das Missverhältnis zwischen Input und Output, zwischen Energieaufnahme und -verbrauch.

Die längst nicht mehr überschaubaren Ernährungsempfehlungen haben schon alles und jedes empfohlen, derzeit liegen zwei völlig gegensätzliche Positionen im Streit: Atkins versus Ornish. Die „Atkins-Diät“ setzt auf viel tierisches Protein und wenig Kohlenhydrate, die „Ornish-Diät“ gerade umgekehrt auf 80 Prozent Kohlenhydrate und kaum Fleisch. In Wahrheit dürfte das Verhältnis zwischen Proteinen und Kohlenhydraten nicht so wichtig sein, Menschen sind nicht nur Allesfresser, sondern auch „flexible Esser“, wie die Anthropologen sagen.

These 4: Fett und Zucker sind durch Quantität schädlich, aber auch durch Qualität: Transfette und Fruktose.

Kritisch sind vor allem 1) Fett und 2) Einfachzucker (Mono- und Disaccharide, im Gegensatz zu Polysacchariden wie Stärke) und Zellulose, die wir aber nicht verdauen können, die also, physiologisch gesehen, „gar keine Kalorien“ hat. Fett ist erstens besonders nahrhaft, es hat den doppelten Brennwert von Proteinen und Kohlenhydraten. Zweitens ist Fett nicht gleich Fett, es gibt gesundes und ungesundes. Zu Letzterem gehören die zuletzt stark reduzierten Trans-Fette (siehe Artikel Seite drei).

Auch Zucker ist nicht gleich Zucker: Vor allem in den USA kommt seit den Siebzigerjahren verstärkt Fruktose zum Einsatz (meist aus Mais gewonnen), z.B. für Softdrinks oder Ketchup. Saccharose (der Rohr- oder Rübenzucker in der Zuckerdose) besteht zur Hälfte aus Fruktose und Glukose. Fruktose, die eigentlich als „Fruchtzucker“ ein „gesundes“ Image hat, steht im Verdacht, den Hunger wach zu halten: die körpereigenen Sättigungssignale zu blockieren (in diesem Fall das Insulin).

These 5: So wichtig wie der Input an Energie ist der Output: Bewegung bzw. ihr Mangel ist der zweite Kern des Problems.

Im Vergleich zu Mitgliedern heutiger Jäger- und Sammlergesellschaften, die an keiner „westlichen Krankheit“ leiden, ist unsere Energieaufnahme etwa gleich hoch: aber unter körperlichem Einsatz gejagt und gesammelt wird den halben Tag. Dass auch die Qualität der derart erworbenen Nahrung uns wohltäte, ist zentrales Argument der jüngsten Ernährungsempfehlung, der „Paläo-Diät“ (siehe Artikel Seite 4).

These 6: Zum Lebensstil gehört nicht nur die Aktivität, sondern auch der Schlaf. Hat sein Fehlen mit Übergewicht zu tun?

Es gibt eine erstaunliche Korrelation zwischen dem Anschwellen der Körper und dem Schwund des Schlafs, parallel zur „Fett-Epidemie“ läuft eine „Schlaflosigkeits-Epidemie“: In den USA dauerte der Nachtschlaf 1960 noch acht bis neun Stunden, heute sind es sieben. Das ist offenbar mehr als eine Korrelation: Das „Sättigungs-Hormon“ Leptin und das „Hunger-Hormon“ Ghrelin werden durch Schlafentzug beeinflusst: Die Leptin-Konzentration fällt, die Ghrelin-Konzentration steigt.

These 7: Aus der Natur kommen genauso Gifte wie aus der Chemie: „Bio“ und „natürlich“ ist nicht gleich gesund.

Dass sich „biologische“ und „nicht biologische“ Lebensmittel nicht im Energieinhalt unterscheiden (außer man setzt „biologisch“ gleich mit Gemüse), dürfte einleuchten. Aber sie enthalten auch nicht prinzipiell weniger Gifte. Vor allem ganz natürliche Schimmelpilze erzeugen Stoffe (z.B. Aflatoxin), die z.B. Pestizide an Giftigkeit durchaus übertreffen. Die Einführung des Kühlschranks war ein wichtiger Schritt zur Hebung des Gesundheitsniveaus, hat etwa das Magenkrebs-Risiko stark reduziert.

These 8: Meldungen über Stoffe, die die Gesundheit wundersam verbessern, sind mit Humor zu genießen.

Dass Resveratrol – in größeren Mengen enthalten in Rotwein, aber auch Traubensaft – als Antioxidans gegen freie Radikale und damit der Gesundheit hilft, dürfte wirklich stimmen (und die Wirksamkeit der Mittelmeer-Diät erklären). Aber die Meldung, dass sich in (schwarzer) Schokolade viele Antioxidantien finden, sollte einen nicht dazu verleiten, kiloweise Schokolade zu essen. Auch Vitamine sind nicht bedenkenlos als hochdosierte Medikamente zu verwenden: So kann das Provitamin Beta-Carotin (Vorstufe des Vitamin A) in großen Dosen bei Rauchern vermutlich das Lungenkrebsrisiko erhöhen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2007)

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