Wo der Überwachungsstaat längst Realität ist

Großbritannien: Mehr als 4,2 Millionen Kameras, hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.

LONDON. Knapp 60 Jahre nach der Veröffentlichung von George Orwells „1984“ ist seine Utopie des totalen Überwachungsstaats ausgerechnet in seinem Heimatland Großbritannien längst Realität geworden. Allein im engsten Umkreis jenes Hauses im Nordlondoner Stadtteil Islington, in dem Orwell seine Schreckensvision von „Big Brother“ entwarf, beobachten heute 32 Überwachungskameras jede Bewegung.

Insgesamt gibt es in Großbritannien derzeit 4,2 Millionen Überwachungskameras, damit kommt eine Kamera auf jeden 14. Bürger. Im Verlauf eines Tages wird ein Londoner im Durchschnitt 300 Mal gefilmt. Als die erste Überwachungskamera 1985 im Seebad Bournemouth installiert wurde, fand das nur wenig Nachahmer. Zur massenhaften Installierung kam es aber in den frühen neunziger Jahren, als eine Welle aufsehenerregender Kriminalfälle und der IRA-Terror das Land erschütterten: Heute sind Geschäftslokale, Straßen, öffentliche Verkehrsmittel, Hauseingänge, belebte Plätze, Regierungsgebäude, ja selbst Kirchen mit Kameras versehen. Den „Rekord“ hält die Londoner Holloway Road: Auf 3,2 Kilometer finden sich hier nicht weniger als 102 Überwachungskameras. Zum Durchbruch verhalf den Kameras auch der Siegeszug der Digitalisierung. „Wo man früher alle drei Stunden eine Kassette austauschen musste, haben wir heute Systeme, die drei Monate ohne Pause aufnehmen können“, erklärt Daniel Botterill von der Firma „Smart Protection Systems“.

Rasant werden neue Fortschritte gemacht: Kameras in ferngesteuerten Mini-Hubschraubern, Kameras mit Mikrofonen und Lautsprechern, die Vernetzung von Kameras mit Datenbanken, Winzig-Kameras in Hüten oder am Revers. Was die Ausstattung eines James Bond-Films zu sein scheint, kommt alles bereits in der Praxis zum Einsatz. Gab es bei der Einführung der Überwachungskameras große Bedenken (so wurden die Rechtsgrundlagen erst nachträglich geschaffen), so sind sie heute weithin akzeptiert. Umfragen zeigen regelmäßige Mehrheiten von bis zu 70 Prozent für diese Art der Kontrolle.

Immer wieder neue Anlagen

Wesentlich zur Akzeptanz beigetragen hat, dass etwa nach den Terroranschlägen 2005 die Behörden mit Hilfe von Kamerabildern den Tätern binnen Stunden auf der Spur waren. Genau hier setzen aber Kritiker an, die meinen, dass die Kameras Verbrechen nicht verhindern, höchstens bei ihrer Aufklärung helfen können, wie etwa der Experte David Murakami Wood von der Universität Newcastle. Der Kulturkritiker Dolan Cummings warnt vor der gesellschaftlichen Wirkung: „Wir institutionalisieren damit das gegenseitige Misstrauen.“

Sorge bereitet die rasende Installierung neuer Anlagen: Als der Ort Stockbridge, wo die Kriminalitätsrate unter fünf Prozent liegt und das Stehlen der Kirschen aus dem Nachbargarten vermutlich das schwerste Delikt ist, im Mai eine Überwachungsanlage installierte, sagte ausgerechnet der Vizepolizeichef des Bezirks: „Das ist nicht mehr die Gesellschaft, in der ich leben möchte.“ Die Briten aber lieben ihren „Big Brother“. Von der gleichnamigen TV-Reality-Show läuft trotz lähmender Ödnis bereits die achte Staffel vor einem Millionenpublikum.

Die Popgruppe „Police“ sah das alles voraus. Ausgerechnet 1984 gewannen sie einen Grammy für den Hit „Every Breath You Take“ mit seinen prophetischen Worten: „Jeden Atemzug, den du schöpfst/Jede Bewegung, die du machst/Ich werde dich beobachten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2007)

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