Sarajewo: Auf den Spuren des Kriegs

(c) AP (Amel Emric)
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In Sarajewo haben sich zwölf Jahre nach Kriegsende Relikte der Belagerung zu Touristen-Attraktionen gemausert.

Sarajewo. Kerben zeichnen den rauen Beton. Neun Menschen seien bei dem Artillerie-Einschlag an dieser Stelle getötet worden, berichtet Touristenführer Sunny in einer staubigen Vorort-Straße von Sarajewo seinen andächtig lauschenden Zuhörern. „Sarajewo-Rosen“ würden die rot gefärbten Einschlagstellen der Geschosse genannt, wo während des Bosnien-Krieges unzählige Menschen ihr Leben ließen, erzählt der schlaksige Bosnier: „Über drei Jahre lang prasselten durchschnittlich 320 Granaten pro Tag auf die Stadt ein, an manchen Tagen sogar 3000.“

Ständig seien die Bewohner von Bosniens Hauptstadt den Attacken von Heckenschützen ausgesetzt gewesen. „Man konnte ihnen kaum entkommen. 300.000 Menschen waren damals in Sarajewo eingeschlossen: Ich war einer davon.“

Kaum noch Kriegsruinen

Zwölf Jahre liegen die Schrecken des Bosnien-Kriegs zurück. 1425 Tage war damals die multi-ethnische Hauptstadt Sarajewo von bosnisch-serbischen Truppen eingeschlossen. Die meisten Spuren des damaligen Dauerbeschusses sind getilgt, im Stadtzentrum nur noch vereinzelt durchsiebte Fassaden und Kriegsruinen zu sehen. In den Gassen des Basars der von Minaretten überragten Altstadt drängen sich längst wieder die Touristen. Doch zu einer der populärsten Besucher-Attraktionen der schmucken Stadt haben sich ausgerechnet die Touren auf den Spuren ihres dunkelsten Kapitels entpuppt: Zahlreiche Reisebüros bieten den Besuchern mehrstündige „Kriegstouren“ für bis zu 25 Euro an.

Von April 1992 bis Februar 1996 versuchte das Ausland über eine Luftbrücke zu dem von UN-Truppen gehaltenen Flugplatz zu versorgen. „Der Tunnel war die einzige Nabelschnur der Stadt,“ sagt Sunny und weist auf einen von Holzbrettern gestützten Kellereingang: „Wir gruben ihn, um zu überleben.“ Zwei Jahre lang wurden Millionen Tonnen an Nahrungsmitteln und Waffen aus den von muslimischen Bosniaken kontrollierten Gebieten in die eingeschlossene Stadt geschmuggelt.

Zwei von Sunny gekürte Freiwillige müssen vor dem Einstieg ins Tunnelloch zwei 25 Kilogramm schwere Rucksäcke schultern. „Stellt euch vor, der Rucksack wäre doppelt so schwer, und ihr müsstet nach Verlassen des Tunnels noch zehn Kilometer unter Granaten- und Heckenschützen-Feuer in die Stadt laufen.“

Hoch über Sarajewo nehmen die Kriegstouristen auf dem verwitterten Beton der von Gestrüpp überwucherten Bobbahn der Olympischen Spiele von 1984 Platz. „Keiner entfernt sich von der Gruppe“, warnt Sunny vor eigenmächtigen Ausflügen ins verminte Gelände. Nur wenigen hundert Meter unterhalb der Positionen der Belagerer befanden sich auf dem Berg die Stellungen der Verteidiger: „Es war ein Ort voller Kämpfe.“ Im Schnell-Durchlauf lässt er die Geschichte der Belagerung vor den schweigsamen Ausflüglern Revue passieren.

Nie den Lebenswillen verloren

Ihre Energie habe die Stadt jedoch auch zu Zeiten der größten Not nie verloren, beteuert der Stadtpatriot, während er seine Touristen-Herde zum schönsten Aussichtspunkt Sarajewos lotst: „Die Leute waren entschlossen, die Belagerung zu überleben, organisierten selbst Filmfestivals, Fußballspiele oder die Wahl der Miss Sarajewo.“

Obwohl der Anteil der Serben an der Bevölkerung seit dem Krieg merklich gesunken ist, ältere Bewohner den Verlust des einst kosmopolitischen Charakters von Sarajewo beklagen, ist die auf 300.000 Einwohner geschrumpfte Stadt nach Ansicht von Sunny unverändert multikulturell geblieben.

Sarajewo werde heute allenfalls durch die Rivalität der Fans der beiden örtlichen Fußball-Clubs geteilt, versichert er. Einig seien sich die Bewohner aber in ihrem Streben, die Olympischen Winterspiele ein zweites Mal nach Bosnien zu holen: „Wir sind sicher: 2018 ist Olympia wieder in Sarajewo.“

WISSEN. 1425 Tage Dauerbeschuss in Sarajewo

Die längste Belagerung der modernen Kriegsgeschichte dauerte von April 1992 bis Februar 1996. Die multi-ethnische Hauptstadt Sarajewo war 1425 Tage von bosnisch-serbischen Truppen eingeschlossen. Täglich schlugen durchschnittlich 329 Granaten in die Stadt ein. Mehr als 11.000 Menschen aller Ethnien starben im Dauerbeschuss – unter ihnen 1600 Kinder –, 50.000 wurden verletzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2007)

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