„Der Nahe Osten kann die Welt in den Abgrund reißen“

(c) AP (Hadi Mizban)
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Interview. Zalmay Khalilzad, US-Exbotschafter in Kabul und Bagdad, derzeit UN-Botschafter in New York, gesteht Fehler im Irak ein und warnt vor einer Rückkehr zu einer multipolaren Welt.

Die Presse: Sie haben sich schon 1991 für einen Regimewechsel im Irak ausgesprochen. Würden Sie es wieder tun?

Zalmay Khalilzad: Nach dem Golfkrieg 1991 dachte ich, Saddam Hussein im Amt zu lassen und gleichzeitig Sanktionen aufrecht zu halten, sei ein Fehler. Es war gegenüber der irakischen Bevölkerung moralisch nicht in Ordnung.

Aber war es denn moralisch in Ordnung, Saddam Hussein zu stürzen, ohne die Konsequenzen zu bedenken?

Khalilzad: Diese Konsequenzen waren nicht unvermeidlich. Sie sind das Resultat von Fehlern, die wir nach der Invasion gemacht haben.

Was waren die größten Fehler?

Khalilzad: Die Historiker diskutieren schon jetzt, ob wir nach Saddams Sturz nicht mehr Truppen in den Irak hätten schicken sollen, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ob es richtig war, die irakische Armee aufzulösen. Ob man schneller eine irakische Regierung bilden hätte sollen. Ob es ein derart umfassendes De-Baathifizierungsprogramm geben hätte sollen.

Es hat sowohl im Irak als auch in Afghanistan den Anschein, dass die USA konventionelle Kriege gewinnen können, aber bei der Befriedung der eroberten Länder scheitern. Woran liegt das?

Khalilzad: Die große Herausforderung in Afghanistan ist es, einen Staat aufzubauen. Die staatlichen Institutionen sind dort seit jeher schwach. Aber ich glaube, dass Afghanistan strategisch gar nicht so schlechte Karten hat. Denn unter den Afghanen gibt es heute eine große Übereinstimmung darüber, was es heißt, ein Afghane zu sein. Gleichzeitig grassiert enorme Korruption. Der Staat ist teilweise nicht vorhanden. Die Taliban haben aus der daraus resultierenden Enttäuschung Kapital geschlagen. Dazu kommt, dass die Taliban einen Schutzraum in Pakistan haben. Dort haben sie sich wieder formiert. Und sie bekommen Geld von Drogenbaronen. Freilich: Die USA und die Nato können Afghanistan nicht regieren. Das müssen die Afghanen schon selber erledigen.

Wie kann man Herr des Chaos im Irak werden?

Khalilzad: Die USA können helfen. Und ich habe auch vorgeschlagen, dass die UNO eine führende politische Rolle bei den Verhandlungen übernimmt. Aber einigen müssen sich die Iraker schon selbst.

Warum sollte die UNO mehr Erfolg haben im Irak als die USA?

Khlalizad: Die UNO tritt nicht statt den USA auf, sondern gemeinsam mit den USA.

Wälzen die Amerikaner da nicht die Verantwortung auf die UNO ab, der sie zuerst überhaupt keine Rolle zubilligen wollten?

Khalilzad: Wir werden unseren Teil der Verantwortung weiter wahrnehmen. Die UNO hat einige Vorteile als Vermittler und Brückenbauer. Das Irak-Problem hat zwei große Dimensionen: eine interne und eine regionale. Saudiarabien, der Iran und die Türkei können bei der Stabilisierung in Mesopotamien helfen, sie können aber auch schaden.

Sie haben Saudiarabien jüngst dafür kritisiert, den Irak zu destabilisieren. Was genau haben Sie damit gemeint?

Khalilzad: Ich wurde da falsch verstanden. Ich sagte, dass die Freunde der USA nicht genug tun, um im Irak zu helfen, auch Saudiarabien nicht. Es wird nicht genug Vertrauen gegenüber Schiiten aufgebaut. Manche Nachbarn sind auch in Bagdad nicht ausreichend diplomatisch präsent, um helfen zu können.

Sie haben also nicht Saudiarabien dafür kritisiert, sunnitische Extremisten zu unterstützen?

Khalilzad: Es gibt keinen Beweis, dass die saudiarabische Regierung sunnitischen Aufständischen im Irak hilft. Es gibt vielleicht saudiarabische Privatpersonen, die das tun.

In den USA wird der Druck immer größer, die Truppen aus dem Irak abziehen. Was wäre die Konsequenz, wenn es zu einem schnellen Rückzug käme?

Khalilzad: Das würde den Konflikt im Irak höchstwahrscheinlich intensivieren. Es bestehen mehrere Gefahren, die zu einer Eskalation führen könnten.

Regionalmächte könnten involviert werden, sodass der Krieg sich schließlich auf die Region ausweitet. Saudiarabien auf der einen, Iran auf der anderen Seite.

Der kurdische Norden könnte sich abspalten, was wiederum die Türken in den Konflikt hereinziehen könnte.

Ein drittes Szenario: Ein Teil des Irak könnte von Extremisten, sogar vom Terrornetzwerk al-Qaida übernommen werden. Wobei: Gerade in der Unruhe-Provinz Anbar hatten wir zuletzt Erfolg. Sunniten kämpfen nun gemeinsam mit uns gegen al-Qaida. Aber um diesen Prozess unumkehrbar zu machen, müsste es eine strategische Übereinkunft unter den Irakern geben, die die sunnitische Minderheit ebenso zufrieden stellt wie Schiiten und Kurden.

Glauben Sie, dass es eine langfristige militärische Präsenz der USA geben wird? US-Verteidigungsminister Robert Gates hat zuletzt den Vergleich mit Südkorea gezogen, wo mehr als 50 Jahre nach Kriegsende noch immer Zehntausende US-Soldaten stationiert sind.

Khalilzad: Der Irak wird noch für längere Zeit nicht in der Lage sein, auf eigenen Beinen zu stehen.

Sprechen wir von zehn, 20 Jahren?

Khalilzad: Ja, ich glaube durchaus, dass das so lange dauern kann. Welche Form die Hilfe annimmt, hängt sehr stark von den Irakern ab. Bis jetzt gibt es keine Vereinbarung zwischen dem Irak und den USA über eine längere Militärpräsenz.

In Amerika gibt es darüber offenbar keinen Konsens.

Khalilzad: Das stimmt. Die Geduld der amerikanischen Bevölkerung neigt sich dem Ende zu.

Haben die Amerikaner nicht mehr die Ausdauer für langfristiges Engagement?

Khalilzad: Schon, wie das Beispiel Korea zeigt. Es hängt davon ab, ob die amerikanische Bevölkerung überzeugt ist, dass eine bestimmte Strategie funktioniert.

Im Irak geht die Strategie offenbar nicht auf.

Khalilzad: Das ist die Wahrnehmung.

Es ist nur eine Wahrnehmung oder nicht vielmehr Realität?

Khalilzad: Die Herausforderungen im Irak sind größer als erwartet.

Sie haben Ihre Doktorarbeit über das iranische Nuklearprogramm geschrieben. Seit mehr als drei Jahren verhandelt man mit dem Iran ohne Erfolg. Denken Sie an eine neue Strategie, um aus der Sackgasse zu kommen.

Khalilzad: Es ist inakzeptabel für die Welt, dass der Iran Atomwaffen erwirbt. Das ist nicht nur die Meinung der USA, das hat der Sicherheitsrat einstimmig festgehalten.

Heißt das, dass unter allen Umständen präemptiv verhindern werden muss, dass die Machthaber im Iran Atombomben in ihre Hände bekommen?

Khalilzad: Das heißt vor allem, dass Irans Nuklearprogramm wichtig dafür ist, welche Gestalt die Welt annehmen wird. Bis jetzt haben weder Verhandlungen noch Sanktionen den Iran zum Einlenken bewegt. Obwohl: Es gibt Hinweise, dass die Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen haben.

Aber es bleibt möglicherweise nicht mehr viel Zeit.

Khalilzad: Deswegen müssen wir uns überlegen, was wir als nächstes tun. Der Sicherheitsrat wird sich mit dem Thema wahrscheinlich wieder im September befassen. Da werden wir wieder eine Entscheidung über eine Ausweitung der Sanktionen treffen müssen, um den Druck auf den Iran zu erhöhen und gleichzeitig offen für Gespräche mit dem Iran zu sein.

Deswegen unterstützen wir auch die Aktivitäten des EU-Außenbeauftragten Javier Solana und des Generaldirektors der Atomenergiebehörde Mohamed ElBaradei. Wenn der Iran Interesse an Brennstoff für seine Reaktoren hat, kann eine Lösung gefunden werden. Wir haben nichts dagegen, dass der Iran zivile Atomkraftwerke hat. Aber es ist nicht hinnehmbar, dass der Iran spaltbares Material für die Produktion von Atomwaffen produziert.

Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik sagt immer wieder, es gebe keine Alternative zum Dialog mit dem Iran. Was, wenn der Iran den Dialog weiterhin verweigert und am Ende über Atombomben verfügt?

Khalilzad: Dialog ist ein Werkzeug im diplomatischen Werkzeugkasten. Aber die militärische Option ist ein anderes Werkzeug. Es ist nicht klug, eines von beiden vom Tisch zu nehmen. Diese Werkzeuge können auch komplementär, manchmal auch gleichzeitig eingesetzt werden. Präsident Bush will keine Option ausschließen. Aber jetzt sind wir eindeutig in der Phase der Diplomatie. Ich glaube nicht, dass in so und so viel Wochen die Zeit ausläuft. Zudem: Außer multilate-ralen Sanktionen könnte es auch bilaterale geben.

Glauben Sie, dass es dieses Jahr eine Lösung der Kosovofrage geben soll und geben wird?

Khalilzad: Wir haben bis 10. Dezember Zeit. Dann wird die Troika der UNO Bericht erstatten. Wir, die USA, sind der Ansicht, dass der Status des Kosovo auf die eine oder andere Art geklärt werden muss.

Was heißt das?

Khalilizad: Dass auch eine Lösung ohne Russland gefunden werden muss, wenn es im Sicherheitsrat nicht zustimmt. Es wäre wünschenswert, wenn eine Lösung gemeinsam mit Russland gefunden wird. Aber ewig kann die jetzige Situation im Kosovo nicht aufrechterhalten werden. Die Lage im Kosovo stellt eine Gefahr für die regionale und europäische Stabilität dar.

Unter Lösung verstehen Sie Unabhängigkeit für Kosovo?

Khalilzad: UN-Vermittler Ahtisaari schlug einen Mittelweg vor (Anm: überwachte Unabhängigkeit), es gibt also durchaus verschiedenste Lösungsoptionen.

Warum stimmen die Russen ihrer Ansicht nicht zu?

Khalilzad: Es gibt Faktoren, die mit der russischen Balkan-Strategie zu tun haben. Aber ein noch wichtigerer Faktor dürfte mit Russlands allgemeiner Außenpolitik zum jetzigen Zeitpunkt zu tun haben.

Sie meinen, dass Russland derzeit daran gelegen ist, den Westen herauszufordern?

Khalilzad: Russlands Außenpolitik ist härter geworden, um Achtung und Anerkennung zu finden.

Der österreichische Verteidigungsminister Norbert Darabos hat jüngst die US-Raketenabwehr eine Provokation genannt?

Khalilzad: Ich möchte nicht direkt mit Darabos debattieren, ich kenne seine Äußerung nicht. Fest steht: Die USA wollen gemeinsam mit Russland eine Lösung finden. Denn auch Russland muss sich vor Raketen schützen. Wir haben Russlands Angebot angenommen, einen Dialog zu führen und gemeinsam Radarstationen zu nützen. Wir hatten ein gutes, konstruktives Treffen mit den Russen. Proliferation von Raketen- und Nukleartechnik ist das größte Sicherheitsproblem der Welt. Raketenabwehr wird deshalb ein wichtiger Teil der zukünftigen Sicherheitsarchitektur sein.

Sie waren 1991 führend in die Verteidigungsplanung involviert (Defense Policy Guidance). Der Hauptgedanke damals war, sicherzustellen, dass die USA führende Weltmacht bleiben. Sind wir mit dem Aufstieg Chinas, Indiens und Europas nicht Zeugen der Rückkehr eines multipolaren Systems?

Khalilzad: Die Grundidee hinter der Defense Policy Guidance war: Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte die Rückkehr zu einer bipolaren Welt oder multipolaren Welt verhindert werden. Denn die bipolare Welt bedeutete Kalten Krieg. Und die multipolare Welt brachte den Ersten und den Zweiten Weltkrieg hervor. Die Idee war, drei wirtschaftliche, demokratische und sicherheitspolitische Zonen zusammenzuhalten: Nordamerika, Europa und Ostasien. Und diese Zone wollten wir ausdehnen. Die Leute glauben, dass dies heißt, dass die USA die Welt dominieren wollen.

Aber die USA sind doch die führende Weltmacht. Warum hat Amerika Angst davor, das zuzugeben?

Khalilzad: Amerika ist die führende Nation und hatte nach 1945 zwei große Erfolge: die Eindämmung der Sowjetunion, und – vielleicht noch wichtiger – die Integration Europas und Ostasiens in Zonen des Wachstums. Das Ziel war, dass diese drei Zonen (Nordamerika, Ostasien, Europa) nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu rivalisierenden Zonen werden.

Aber ist es nicht genau das, was wir im Moment erleben: In Europa wächst der Anti-Amerikanismus.

Khalilzad: Es ist nicht unvermeidlich, dass Europa seinen eigenen Weg geht und ein politischer Rivale der USA wird. Die wirtschaftliche Rivalität ist schon jetzt gegeben. Es herrscht auch ein Wettbewerb an Ideen zwischen Europa und Amerika. Doch nicht alle Reibereien sollte man allzu Ernst nehmen. Es gab auch während des Kalten Krieges Differenzen. Wichtig ist: Die drei Zonen müssen sich gemeinsam auf die größte geopolitische Herausforderung unserer Zeit konzentrieren: die Zukunft des Nahen Ostens.

Warum betrachten Sie den Nahen Osten als die größte Herausforderung?

Khalilzad: Diese Region geht durch eine schwierige Transformationsphase. Das stärkt den Extremismus und bildet den Nährboden für Terrorismus. Europa war eine Zeitlang ebenso dysfunktional. Und manche seiner Kriege wurden Weltkriege. Jetzt haben Probleme des Nahen Ostens und der islamischen Zivilisation das gleiche Potenzial, die Welt in den Abgrund zu reißen.

Warum fällt es islamischen Gesellschaften so schwer, sich in den globalisierten Mainstream einzufügen?

Khalilzad: Sie werden es tun, aber das wird noch eine Weile dauern. Sie haben spät begonnen. Sie haben keinen Konsens über ihre Konzepte. Manche glauben, dass sie zurück in die Zeit des Propheten Mohammed müssen. Es wird vielleicht noch Jahrzehnte brauchen, bis manche verstehen, dass sie Moslems bleiben und sich zugleich der modernen Welt anschließen können. Doch wenn Extremisten diese Region dominieren, kann das große Probleme verursachen. Man muss nur die Nähe Europas und den großen Ölreichtum im Nahen Osten bedenken.

Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage in Pakistan? Der Sessel des Militärmachthabers General Pervez Musharraf wackelt, die Islamisten sind im Aufwind. Und das in einem Land, das Nuklearwaffen besitzt.

Khalilzad: Ich glaube nicht, dass es derzeit eine akute Gefahr gibt, dass Pakistan auseinander- oder in die Hände von Extremisten fällt. Das Potenzial existiert. Jetzt geht es darum, moderate Kräfte zu unterstützen.

Sie haben unlängst zu diesem Zweck Pakistans Ex-Premierministerin Benazir Bhutto getroffen. Könnte der Schuss nicht nach hinten losgehen, wenn sich die USA so offensichtlich in Pakistans interne Angelegenheit einmischen?

Khalilzad: Die Pakistanis einigen sich schon selbst. Ich kenne die frühere Premierministerin Benazir Bhutto seit langem. Ich habe sie getroffen, als sie in New York war, Wir sind Freunde, ich wollte nicht die pakistanische Regierung zusammenstellen.

Gesetzt den Fall, die Extremisten übernehmen das Kommando in Islamabad: Wären die pakistanischen Atomwaffen dann sicher?

Khalilzad: Ich bin nicht so pessimistisch. Pakistan wird seinen Weg zu Wahlen und einer neuen Regierung gehen. Ich denke, dass es eine geordnete Übergabe der Macht geben wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2007)

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