Ukraine: Der Reporter und der Hunger-Terror

"New York Times" gerät in den Strudel der Aufarbeitung der Hungersnot 1932/33.

KIEW. 33.000 Kerzen werden am heutigen Samstag um 16 Uhr auf dem Platz zwischen der Kiewer St. Sophia und der St. Michael Kathedrale angezündet. Die Zahl hat ihre Bewandtnis. Historiker gehen davon aus, dass im Frühling 1933 auf dem Höhepunkt der von Stalin inszenierten Hungersnot - "Holodomor" auf Ukrainisch - täglich 33.000 Menschen starben.

Insgesamt sind in den Jahren 1932/33 in der Ukraine zwischen sieben und zehn Millionen Menschen verhungert. Die Welt weiß wenig von diesem entsetzlichen Massensterben. Gründe gibt es dafür einige. Nicht wenig Schuld trifft dabei einen Journalisten, der in den 1930iger Jahren für die "New York Times" gearbeitet und bewusst Geschichtsfälschung betrieben hatte.

Aktionen anlässlich des "Holodomor" finden deshalb nicht nur in der Ukraine, sondern auch in New York statt. Eine breite internationale Öffentlichkeit fordert die Zeitung auf, den Pulitzer-Preis, die renommierteste Auszeichnung für journalistische Leistungen in den USA, zurückzugeben, mit dem einst ihr Starreporter Walter Duranty 1932 geehrt wurde.

Der Engländer Walter Duranty war in den 30er Jahren der weltweit bekannteste Auslandskorrespondent. Von 1922 bis 1941 füllten seine lebendigen Artikel über die Sowjetunion die Titelseiten der "New York Times". Er war der Erste, der Stalins Aufstieg an die Macht voraussah. Vorgeworfen wird Duranty aber inzwischen seit vielen Jahren, die von Stalin orchestrierte Hungersnot in der Ukraine ignoriert und den Lesern bewusst verschwiegen zu haben.

Die exakte Zahl der Opfer der großen Hungersnot 1932/33 in der Ukraine kennt man bis heute nicht. Als Stalin die kompromittierenden Statistiken sah, die den drastischen Bevölkerungsschwund in der Ukraine zwischen 1932 und 1939 anzeigten, ließ er die Verantwortlichen für die Erhebungen erschießen und die Zahlen "schönen".

Berichte von Zeitzeugen, zusammengetragen in dem Buch "Die schwarzen Taten des Kreml", sind so grausam, dass man sie kaum zu lesen mag. Ein Beobachter berichtet: "In Charkiw sah ich einen Jungen, bis zum Skelett abgemagert, mitten auf der Straße liegen. Ein zweiter Junge suchte im Müll nach etwas Essbaren. Er bewegte sich wie ein wildes Tier."

Ein anderer Zeuge gab zu Protokoll: "Luka Bondar lebte in Bilosivka, in der Region Poltawa. Er hatte eine Frau und eine fünfjährige Tochter, Vaska. Im März 1933 verließ er das Dorf auf der Suche nach Nahrung. Eine Woche später starb seine Frau an Hunger. Nach ihrem Tod suchten die Nachbarn im Haus nach der kleinen Tochter. Sie konnten jedoch im Ofen nur einen Topf mit gekochter Leber, Herz und Lunge finden. Im Keller entdeckten sie ein Loch. Darin waren der Kopf des Mädchens, die Füße und die Hände begraben."

In der Ukraine, der Kornkammer Europas, verhungerten die Leute vor vollen, verschlossenen Speichern. Ausländische Hilfe wurde von Stalin wiederholt abgelehnt. Eine Naturkatastrophe gab es nicht - es gab einen Hunger-Terror gegen die ländliche Ukraine. Der Grund? Dort lebten selbstbewusste Bauern, die ihr Land traditionell - im Gegensatz zu Russland - nicht kommunal, sondern privat bewirtschafteten.

Stalins Politik der Kollektivierung war deshalb in der Ukraine noch unpopulärer als in Russland, der Widerstand um vieles größer. Deshalb wurden im Rahmen der Politik der "Vernichtung der Kulaken als Klasse" Dörfer abgebrannt und bombardiert, jeder ukrainische Bauer, der sich weigerte, Land, Geräte und Vieh aufzugeben, wurde verhaftet und deportiert. Der Historiker Robert Conquest schätzt, dass bis 1933 etwa zehn bis zwölf Millionen Bauern nach Sibirien und Zentralasien deportiert wurden. Zwei Jahre später war ein Drittel von ihnen tot.

Walter Duranty hat sich bewusst die grausamen Szenen in den ukrainischen Dörfern und auf den Verladebahnhöfen erspart. Er wollte sie gar nicht sehen. Wieder und wieder leugnete er das Problem. Am 31. März 1933 behauptete er in der "New York Times", dass es "keine Toten auf Grund einer Hungersnot gibt. Die hohe Todesrate ist Folge mangelhafter Ernährung".

Als später die Grausamkeiten des stalinistischen Regimes nicht mehr zu leugnen waren, hörte man Duranty immer wieder Stalin zitieren: "Man kann kein Omelette machen, ohne einige Eier zu zerschlagen." Diese "Eier" waren Männer, Frauen und Kinder.

Die Forderung an die "New York Times", den Pulitzer-Preis zurückzugeben, wird seit Jahren erhoben. Bisher hat sich die Zeitung herausgeredet und lediglich zugestanden, dass die Berichterstattung tatsächlich einige "Mängel" hatte. Auch wird von Seiten des Weltblattes mit Spitzfindigkeiten argumentiert und erklärt, dass der Preis ja schließlich für Artikel in der Zeit vor der Hungersnot verliehen worden sei.

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