Frankreich: „Uns schickte man den Müll aus Paris“

In den Pariser Vorstädten ist die Stimmung angespannter denn je. Das Feindbild der farbigen Jugend heißt Sarkozy.

PARIS. Nach den Krawallen in den Vorstadtvierteln im Spätherbst 2005 wollten alle die Ärmel aufkrempeln. Präsident Jacques Chirac empfing Delegationen der Vorstädte, der „Banlieue“. Von einem „Marshall-Plan“ war gar die Rede.

Immer noch hallt die pathetische Anklage der linken „Le Monde diplomatique“ im Ohr: „Die Banlieue ist Frankreichs Apartheid.“ Alle Probleme der untersten Schichten seien in diesen ghettoähnlichen Siedlungen konzentriert“. Stimmt das? Das lässt sich mit einer Fahrt in der RER-Schnellbahn über die Stadtgrenze hinaus verifizieren. Fast am Ende eines Seitenarms der Linie B liegt Sevran.

Wie es zu dieser „räumlichen und sozialen Segregation“ kam, unter der Vorortsgemeinden wie seine leiden, erklärt der Bürgermeister Stéphane Gatignon so: „Man baute die Fabriken im Nordosten von Paris wegen der Luftverschmutzung und siedelte die Arbeiter rund herum an. Jetzt sind die Arbeitsplätze weg, aber die Arbeitskräfte, die man hergeholt hatte, samt ihren Kindern sind in diesen ohne städtebauliches Konzept gebauten Siedlungen geblieben.“

Vor zwölf Jahren hatten Firmen wie Kodak und Westinghouse in Sevran 6000 Personen beschäftigt. Heute sind die Stadtbehörde und ein Alterspflegeheim die größten Arbeitgeber. Von 51.000 Einwohnern, die aus insgesamt 70 Volksgruppen kommen, beziehen 1600 das Existenzminimum RMI (440 Euro für eine Person, 925 Euro für ein Paar mit zwei Kindern). Mehr als 4500 sind offiziell arbeitslos. In Wirklichkeit seien weit mehr ohne Stelle, so der Bürgermeister. Bei den Jungen, die sich oft gar nicht mehr beim Arbeitsamt melden, seien es 30 bis 40 Prozent.

Held der alten Weißen

Ihre Diskriminierung bei der Arbeits- und Wohnungssuche sei nicht abzustreiten: Wer einen exotisch klingenden Namen hat oder aus dem berüchtigten Departement 93 (Seine Saint-Denis) kommt, wird oft im Voraus abgewiesen. Rund ein Drittel der Haushalte von Sevran sind Familien mit allein erziehenden Müttern. Alkohol, Drogen, Kleinkriminalität und Gewalt sind vor allem in den Hochhaussiedlungen Les Beaudottes und Rougemont allgegenwärtig. Sevran ist trotz relativ hoher kommunaler Steuern eine der ärmsten Gemeinden Frankreichs.

Der 39-jährige Bürgermeister, der wie noch viele in diesem einstigen „roten Gürtel um Paris“ Mitglied der Kommunistischen Partei ist, fühlt sich vom Zentralstaat im Stich gelassen. Vor allem beschwert er sich über die „mangelnde Bereitschaft der reichen Gemeinden zur sozialen und ethnischen Mischung“.

Wer kann, zieht weg aus solchen immer weniger attraktiven Orten wie Sevran, wo die Konzentration der Armut zu einem Teufelskreis wird. Geblieben ist der 84-jährige Michel Yeretan. Er wohnt seit 1924 in Sevran, das damals noch ein Dorf im Grünen mit 6000 Einwohnern war. Über seine heutigen Nachbarn meint er abfällig: „Weil nach dem Krieg Wohnungsnot herrschte, hat man uns aus Paris den ganzen Müll geschickt.“ Stolz posiert er vor dem Parteilokal der regierenden UMP in Sevran neben dem Wahlplakat des Kandidaten Nicolas Sarkozy, von dessen Wahl zum Präsidenten er sich viel erhofft.

Denn als Innenminister hatte Sarkozy 2005 in Argenteuil versprochen, er werde diese Quartiere „mit dem Kärcher“ (einem deutschen Hochdruckreiniger) „vom Gesindel säubern“. Ein Teil der Banlieue-Bevölkerung fasste dies als pauschale Beleidigung auf.

„Alles, nur nicht Sarkozy“

Vor allem unter Jungen, die sich trotz ihres Misstrauens gegen die Politik zahlreich in die Wahllisten eingetragen haben, zirkuliert die Losung: „Tout sauf Sarkozy!“ („Alles, nur nicht Sarkozy!“). Manche ziehen ihm sogar den offen fremdenfeindlichen Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen vor.

Sarkozy verspricht Abhilfe mit einer „positiven Diskriminierung“ zu Gunsten der farbigen Jungen. Doch die in Frankreich geborenen Schwarzen und Maghrebiner machen ihm die ständigen Polizeikontrollen zum Vorwurf, die sie als rassistische Schikane erleben. Umgekehrt beklagen sich die Polizistengewerkschaften über eine unerträgliche Zunahme der Gewalt gegen Beamte: Bereits 1400 Fälle im ersten Quartal 2007.

Kein Tag vergeht ohne Konfrontation zwischen Vorstadtjugendlichen und Ordnungskräften. Dennoch hat keiner der Favoriten für die Präsidentenwahl die Banlieue-Frage zur Priorität erklärt.

Inline Flex[Faktbox] VORSTADT-KRAWALLE("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2007)


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