„So kann man im 21. Jahrhundert nicht mehr leben“

Sheikha Haya Al Khalifa, bahrainische Präsidentin der UN-Vollversammlung, über die Sharia-Gesetze.

„Die Presse“:Nehmen wir an, man könnte es sich aussuchen, wo man geboren wird. Wieso sollte man da als Frau ein arabisch-islamisches Land wählen?

Sheikha Haya Rashed Al Khalifa: Sehen Sie, wir sind eine sehr alte Zivilisation, wir haben eine reiche Geschichte. Doch jetzt sind wir im 21. Jahrhundert, und wir müssen als Volk eine Rolle spielen, das im 21. Jahrhundert lebt. Als Menschen können wir mit unseren Talenten beitragen, unsere Länder und Gesellschaften aufzubauen. Und da ist kein Unterschied zwischen Mann und Frau. Durch die Technik ist die Welt klein geworden, und wir denken, dass es dadurch auch keinen Unterschied zwischen arabischen und anderen Frauen gibt. Doch unterstehen wir Frauen in unserer Region einem Recht, das uns manchmal hindert, gemeinsam mit den Männern an unseren Ländern zu arbeiten.

Wir reden also über Diskriminierung, denn Frauen scheinen durch Teile der Sharia und des Personenrechts benachteiligt zu sein. Welche Beispiele für Diskriminierung stören sie am meisten?

Al Khalifa: Alle arabischen Länder sind in der UNO, in unseren Verfassungen sind die Prinzipien der Menschenrechte verankert, so wie sie die UNO vorsieht. Als UN-Mitglieder müssen wir die Menschenrechte akzeptieren. Dennoch sind Frauen in manchen Staaten einem Familienrecht unterworfen, das auf Interpretationen der Sharia beruht, die uns als Frauen erniedrigen. Etwa: In einigen nationalen Familienrechten können Frauen keinen Ehevertrag unterschreiben, sie brauchen dafür einen Vormund, etwa Vater, Großvater, Bruder, Onkel, Cousin. Manchmal kann der Sohn Vormund der Mutter sein. Für menschliche Wesen im 21. Jahrhundert ist das verletzend.

In einer Rede kritisierten sie die extreme Betonung der Ehe als Kern der Gesellschaft im Islam. Darum würden Frauen dazu tendieren, sich in der Ehe Männern zu unterwerfen und ihnen zu dienen. Wie kann man das ändern?

Al Khalifa: Das ist sehr einfach, denke ich. Das Familienrecht hat Interpretationen islamischer Gelehrter übernommen, die vor mehr als 1000 Jahren lebten. Daraus wurde die Sharia. Doch das alles sind nur Varianten der Interpretation des Heiligen Texts, und der Heilige Text ist sehr allgemein: Man kann daraus viele Ideen entwickeln, da gibt es eigentlich keine Grenze. Und es steht dort nichts, dass uns hindert, die Regeln des Rechts so zu ändern, dass es uns als menschlichen Wesen hilfreich ist, im 21. Jahrhundert zu leben.

Sie glauben, die alten Heiligen Schriften, Koran und Hadith, und die andern Rechtsquellen können den heutigen Umständen gemäß ausgelegt werden? Oder sind die dafür nicht zu versteinert?

Al Khalifa: Im Islam gibt es das Prinzip, dass diese Texte an allen Orten und zu allen Zeiten benutzt werden können. Das heißt, dass wir das Recht haben, sie gemäß der Bedürfnisse unserer Gesellschaft so auszulegen, dass sie uns helfen, als Menschen zu existieren. Ich sage Ihnen: Vor mehr als 1000 Jahren gab es einen berühmten Gelehrten, Imam al-Shafi'i (Gründer der schafiitischen Rechtsschule, eine der vier sunnitischen Rechtsschulen, und wohl wichtigster islamischer Rechtsgelehrter, Anm.) Er lebte zuerst in Medina im heutigen Saudiarabien, hatte dort bestimmte Auffassungen zur Interpretation bestimmter Koran-Texte, und schrieb darüber. Dann ging er nach Kufa im Irak – dort änderte er seine Ansichten, da er fand, dass die Gesellschaft in Kufa anders war als die in Medina. Und als er nach Ägypten ging, änderte er seine Ansichten erneut, weil die Leute dort anders lebten als in Medina und Kufa. Das zeigt, dass man die alten Texte entsprechend den Interessen der Gesellschaft auslegen kann. Und wer entscheidet, wie jene Interessen aussehen? Die Gesellschaft selbst, also Männer und Frauen. Wir können das Recht von heute nicht von der Vergangenheit leihen.

Aber wieso sollten die Gelehrten von heute die alten Texte neu interpretieren wollen? Vielleicht gefällt ihnen alles so, wie es ist, und sie fühlen sich ganz wohl damit.

Al Khalifa: Weil ich als Frau dem Recht unterworfen bin, und daher meine Ansichten zählen müssen. Viele Frauen denken dasselbe: Sie finden es ungerecht, dass sie in einigen Ländern, wenn sie reisen wollen, eine Erlaubnis brauchen. Das ist heute inakzeptabel; oder, dass als Zeugenaussage nur gilt, was von zwei Frauen übereinstimmen gesagt wird. Außerdem muss unser Recht die Verpflichtungen widerspiegeln, die wir als UN-Mitglieder übernommen haben.

Aber nochmal: Sind die Gelehrten von heute willig zur Neuinterpretation?

Al Khalifa: Das ist nicht deren Sache, zu entscheiden, ob sie wollen oder nicht. Es gibt einfach das Bedürfnis der Gesellschaft dazu, denn wir sind Teil der Welt und UN-Mitglieder, also durch die Charta verpflichtet. Und weil die Welt kleiner wird, muss man Frauen und Männern die Möglichkeit geben, ihr Leben mit einem Minimum an Respekt leben zu können.

Haben arabische Männer Angst, ihre Vorrechte zu verlieren?

Al Khalifa: Nein. Wir alle leben im 21. Jahrhundert. Die Männer sollten gar nicht vor irgendwas Angst haben, denn wir leben alle in einem globalen Dorf. Und natürlich sollten wir darin unsere Traditionen und die Religion bewahren – aber innerhalb bestimmter Grenzen, die das Leben von heute widerspiegeln.

Also der Islam an sich ist nicht frauenfeindlich?

Al Khalifa: Nein. Es ist immer unser Geist, der Texte, Gesetze und Ideen in bestimmter Hinsicht versteht. Sie kennen sicher die Geschichte: Der Islam war einst offen, wir nutzten die griechischen Methoden der Interpretation, die Logik, die Philosophie. Wir waren damals sehr offen und bauten unsere arabische Zivilisation auf anderen Zivilisationen auf. Und die Gelehrten sagten, dass man die Heiligen Texte so verstehen muss, wie es dem Interesse der islamischen Gesellschaft entspricht; und dazu gehört, dass unsere Gesellschaft Anteil an der Welt hat. Wir können uns nicht von dieser abschotten, ob wir wollen oder nicht.

Abschottung ist gut: Die islamischen Lehre teilt die Welt in das „Dar al-Islam“ (Haus des Islam bzw. Friedens) und das „Dar al-Harb“ (Haus der Krieges) auf . . .

Al Khalifa: Das stammt aus der Zeit, als der Islam begann, und war Rechtfertigung für bestimmte Dinge (etwa, wie man Nichtmuslime im islamischen Bereich behandelt, Anm.). Heute ist die Welt anders. Die islamischen Länder sind in der UNO.

Sie sind sehr dahinter, dass Frauen in höhere Positionen kommen, etwa in Regierungen, Parlamente und so weiter. Denken Sie, die Welt wäre besser, wenn Frauen die Top-Jobs hätten?

Al Khalifa: Ich denke, es gibt keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen bei der Arbeit, die sie für die Entwicklung ihrer Länder beitragen können. Gebt den Frauen die Chance dazu, lasst es sie beweisen! Wieso heißt es immer, „Das ist eine Frau, die kann nicht arbeiten“? Und das ist nicht nur bei uns so, sondern auch im Westen, das habe ich selbst erlebt – ich lebte lange in Frankreich und jetzt in New York. Und manchmal, wenn Männer wollen, dass wir etwas tun, sagen sie „Komm, tu es, sei nicht scheu!“ Sehen sie, die unterschätzen einen, ich fühle das. Und im Westen ist das auch so.

Also Sie denken nicht, dass Frauen Jobs besser machen als Männer? Dass sie friedlicher sind?

Al Khalifa: Talente sind gleich verteilt. Auch Frauen denken über die Dinge nach, sehen sie nicht oberflächlich, versuchen, sie zu verstehen. Ich sah bei meiner Juristenkarriere, dass es hart ist, das zu beweisen. Man hat mich oft gefragt „Bist Du sicher, dass Du eine Law-Firm eröffnen willst?“ An den Fragen erkennt man, dass man unterschätzt wird, dass das nur Männer können. Heute ist meine Kanzlei mit 13 Anwälten eine der größten in Bahrain; so viele haben dort nur zwei oder drei andere.

Sie präsidieren seit einem Jahr über die UN-Vollversammlung. Denken Sie, dass sich dort Stil und Ton der Debatte geändert hat, weil eine Frau am Ruder ist?

Al Khalifa: Sehen Sie, dort sprechen gebildete Menschen, und ich denke, die haben Werkzeuge, um Brücken zu schlagen und Menschen zusammenzubringen. Am Ende sind wir alle Menschen mit denselben Problemen. Als ich zur UNO kam, sagte ich, dass ich informelle Themen-Debatten in der Generalversammlung veranstalten wolle; das gab es zuvor nie. Und so gab es drei Debatten, zuletzt Anfang Mai jene über „Zivilisationen und die Herausforderungen für den Frieden“ (die anderen drehten sich um die Millennium-Entwicklungsziele  sowie die Förderung der Geschlechter-Gleichheit, Anm.). Sie war für Donnerstag und Freitag angesetzt; für gewöhnlich sind aber Freitag kaum noch Leute da. Doch ich sage ihnen: Der Saal war an beiden Tagen voll. Und wir sprechen über die Frage, warum wir eigentlich Differenzen haben und diese für negative Dinge nützen, wenn man sie doch für Schönes benützen könnte – und, um einander zusammenzubringen.

Glauben Sie, der arabisch-israelische Konflikt wäre leichter lösbar, wenn Frauen bei allen Beteiligten mehr zu sagen hätten?

Al Khalifa: Ja, warum nicht. Wir wollen alle nicht in einem Umfeld von Gewalt leben. Dabei beruht so viel nur auf kulturellen Differenzen. Die kann man überbrücken.

Also da sind Frauen für Sie dann doch friedliebender als Männer?

Al Khalifa: Nein. Ich denke nur, dass Frauen Logik und Vernunft besser nützen. Sehen Sie, manchmal treibt die Politik Keile zwischen Länder. Dabei geht es oft um unterschiedliche Interessen, und die sind an sich zu verteidigen – aber nicht zum Preis von Gewalt. Denn die wird uns einmal heimsuchen, auch wenn sie weit entfernt, etwa in Afghanistan oder Pakistan, passiert. Also ist es unsere Pflicht als Menschen, die Pflicht der UNO, die Klüfte zwischen uns zu überbrücken. Auch jene zwischen Mann und Frau. Sehen Sie etwa die Lage der Frauen in Afghanistan. Die ist inakzeptabel. Und auch nicht die im Nahen Osten: Okay, Frauen stellen jetzt Minister und andere hohe Positionen. Dennoch leiden viele unter gewissen Ideen, die ihr Leben bestimmen.

Und die mehr als 1000 Jahre alt sind...

Al Khalifa: Genau.

ZUR PERSON

Sheikha Haya Rashed Al Khalifa(*1952) war 1979 eine der ersten Anwältinnen Bahrains. Die Großtante des jetzigen Königs Hamad war Botschafterin in Paris, ist Rechtsberaterin bei Hof, führt eine Law-Firm. Derzeit steht die Frauenrechtlerin als erst dritte Frau der UN-Vollversammlung vor. [Bruckberger]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2007)

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