„Wir hatten die Wahl: Flucht oder Tod“

Abbas schlägt zurück. Fatah-Kämpfer patrouillieren in der Westbank.
Abbas schlägt zurück. Fatah-Kämpfer patrouillieren in der Westbank.(c) EPA (Atef Safadi)
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Palästinenser. Die meisten Kämpfer der Fatah haben sich ins Westjordanland abgesetzt. Während sie von der Rückkehr nach Gaza träumen, versucht ihr Chef Abbas, seine Macht zu festigen.

Ramallah. Vize-Parlamentspräsident Hassan Khreishe schüttelt den Kopf: „Der Begriff Notstandsregierung taucht in unserer Verfassung nicht auf.“ Zwar könne Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas das Kabinett auflösen, um innerhalb von 30 Tagen dem Parlament eine neue Ministerriege vorzustellen. Gestern, Sonntag, wurde indes ohne die Zustimmung der Abgeordneten die neue „Notstands-Regierung“ vereidigt. Neuer Premier ist der unabhängige Salam Fayad, der gleichzeitig die Posten des Außen- und des Finanzministers übernimmt.

Abbas hatte am Abend zuvor das Grundgesetz soweit abgeändert, dass er eine Zustimmung des Parlaments nicht mehr brauchte. Auch damit verstoße er gegen das Grundgesetz, erklärt Khreishe, der keiner Partei angehört. Er werde alles daransetzen, um einen Alleingang von Abbas zu verhindern, sollte dieser einen Friedensvertrag zwischen dem Westjordanland und Israel anstreben, während der Gazastreifen außen vor bleibt. „Kein palästinensischer Führer soll wagen, den Gazastreifen vom Westjordanland zu trennen.“

Warnung vor Chaos in Westbank

Seit dem Wochenende sind die beiden palästinensischen Landstreifen politisch zwei unterschiedliche Einheiten. Ismail Haniyeh, der von Abbas entlassene Premierminister der Hamas, regiert im Gazastreifen, Abbas im Westjordanland. Gestern Mittag rammte der Palästinenserpräsident einen weiteren Pfahl zwischen die beiden Bewegungen: Er verbot den militärischen Flügel der Hamas, die sogenannten Kassam-Brigaden.

Auch die aus dem Gazastreifen geflüchteten Fatah-Leute zeigen sich unversöhnlich: „Ich hatte die Wahl zwischen Flucht und Tod“, sagt der Fatah-Abgeordnete Ala Yaghri. Mit Schrecken spricht er über die „Folterer, Diebe und Zerstörer“ der Hamas. Jahrelang habe er sich bemüht, Institutionen aufzubauen und „dann wird innerhalb von wenigen Stunden alles zerstört“. Doch trotz der Entwicklungen dürfe der Gazastreifen nicht aufgegeben werden. „Ich hätte mir niemals träumen lassen, Gaza zu verlassen.“

Dem 43-jährigen gelang die abenteuerliche Flucht bis zum Übergang Erez und von dort über Israel nach Ramallah. „Meine Freunde hatten ein Boot besorgt“, erzählt Yaghri, der sich, kaum als er den Strand erreicht hatte, anders entschied, weil „der Seeweg nur Richtung Ägypten offen war“. In einem Auto versteckt gelangte er zur israelischen Grenze. Nun wartet er auf seine Frau und sechs Kinder. Die Hamas habe keine nationale Agenda, für sie spiele allein die Religion eine Rolle. „Was wollen sie denn? Ein neues Afghanistan? Sie werden nie ihren islamischen Gottesstaat bekommen.“ Mit der Hamas sei kein Kompromiss möglich, und das habe auch die eigene Führung zu spät erkannt. Innerhalb der Fatah sei ein grundlegendes Umdenken nötig, früher oder später „muss auch Abbas gehen“.

Zahlenmäßig waren die Fatah-Kämpfer deutlich im Vorteil. Was zur Niederlage führte, war, dass „wir nicht auf einen Krieg gegen unsere eigenen Leute vorbereitet waren. Unser Ziel war die Befreiung von der Besatzung, während für die Hamas jeder ein Feind ist, der nicht so denkt, wie sie“. Komplette Einheiten der palästinensischen Polizei hätten kampflos aufgegeben. „Wenn wir die Lektion aus Gaza nicht lernen, wird sich die Katastrophe im Westjordanland wiederholen“, warnt Yaghri.

Ein junger Hauptmann, der aus Sorge um seine in Gaza zurückgebliebene Frau und einen zweijährigen Sohn seinen Namen nicht nennen will, hegt keinen Zweifel daran, dass der „Militärputsch seit langem vorbereitet war“. Ähnlich wie Yaghri unternahm der 30-jährige Geheimpolizist die Flucht, als er sah, dass die Schlacht verloren war. Vorher war er Zeuge von acht Hinrichtungen geworden. „Sie riefen um Hilfe. Wir konnten nichts für sie tun.“ Auch nach der Schlacht hätten die Kassam-Brigaden noch neun seiner Kameraden „die Kehle durchgeschnitten“.

„Hamas hatte bessere Waffen“

Unaufhörlich wippt er mit den Beinen. Er macht die USA und Europa für die Entwicklungen verantwortlich. „Seit 18 Monaten kriegen wir kein Geld. So etwas hat einen Effekt auf die Soldaten.“ Wenn man eine palästinensische Polizei haben wolle, die ihre Arbeit macht, dann müsse man sie auch bezahlen. „Die Hamas-Kämpfer tranken Cola und hatten die besseren Waffen.“ Rache interessiere ihn nicht, aber der Gazastreifen. „Wenn der Westen hier keinen al-Qaida-Staat haben will, muss er internationale Truppen schicken.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2007)

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