Kalkulierter Wutausbruch des Vizekanzlers

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Deutschland. Trotz Unkenrufen und Zoff bleibt die Koalition aneinandergekettet.

BERLIN. In Deutschlands Hauptstadt ist die Saison der Sommerfeste angebrochen. Das ist die Zeit der politischen Seifenblasen und Spekulationen, die nahtlos ins Sommertheater übergeht. Während in Brüssel Angela Merkel wieder in einem „Schicksalsgipfel“ darum ringt, Europa Form und Verfassung zu geben, um die EU zu kitten, raunen in Berlin viele über Stillstand und Unmut in der Regierung.

Manche orakeln sogar vom Anfang vom Ende der großen Koalition. FDP-Chef Guido Westerwelle etwa mag den Bruch des ungeliebten Bündnisses gar nicht mehr erwarten. „Die Regierung ist formal noch im Amt, das ist die gute Nachricht. Sie hat aber das Regieren eingestellt, das ist die schlechte Nachricht“, stichelt der Oppositionsführer. Die Koalition befinde sich in einem Zerfallsprozess: „Der Rosenkrieg hat längst begonnen.“

Enttäuschung beim Leibthema

Anlass für die Analyse gab ein Auftritt des roten Vizekanzlers, der sich bisher stets loyal und konziliant gezeigt hatte, sich nun aber im Disput um den Mindestlohn bitter beklagte über die Union und ihre Kanzlerin: Als Arbeitsminister hatte Franz Müntefering die Rente mit 67 gegen massiven Widerstand aus dem eigenen Lager durchgeboxt. Für sein Leibthema hätte er dafür mehr Entgegenkommen des Koalitionspartners gewünscht.

Nachdem es in einer Nachtsitzung im Kanzleramt laut hergegangen und ihm der Kragen geplatzt war, ließ er vor Journalisten seinem Frust freien Lauf. Diesmal trat Müntefering nicht wie üblich mit Merkel als rot-schwarzes Tandem auf, sondern als Einpeitscher, der Einblick gab in sein verwundetes Innenleben.

Zorn und Empörung seien in ihm aufgestiegen, als ihm die Union ihre Zustimmung im Kampf gegen „sittenwidrige“ Löhne verweigerte. Er sei ein Teamspieler, aber auch zum Forechecking imstande.

Viele verstanden dies als offene Kampfansage an den Regierungspartner. Oder sollte Münteferings Ausbruch als sauerländisches Raubein und Traditionssozialist nur ein Signal an die Stammklientel gewesen sein, bei der Stange zu bleiben? Eine Inszenierung als kühl kalkulierte Strategie?

Müntefering wird das Heft nun stärker in die Hand nehmen. Das gilt für die Regierungsarbeit wie für die Außenwirkung der SPD unter der Führung ihres kraftlosen Parteichefs Kurt Beck. Der Vizekanzler und Ex-SPD-Chef hatte seinem Nachnachfolger zuletzt bei der Ausflugsfahrt von SPD-Abgeordneten am Wannsee die Show gestohlen, als er nach einem schwächlichen Auftritt Becks mit einer kämpferischen Rede das Kommando übernommen hatte.

Feststeht, dass die SPD mit der Forderung nach gesetzlichem Mindestlohn in den Wahlkampf ziehen wird; schon, um nicht der Linkspartei und ihrem vor Selbstbewusstsein strotzenden Chef Oskar Lafontaine das Feld zu überlassen. Das Thema soll aber auch in die offene Flanke der Union stoßen.

Linksausleger keine Partner

Doch so sehr sich die Koalition auch mit Kompromissen dahinschleppt: Beide Partner sind trotz aller Unkenrufe aneinandergekettet. Die taumelnde SPD hat jedes Interesse, über die Runden zu kommen. Eine Koalition mit Lafontaines Linksauslegern bleibt für sie auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Sie muss auf ein Ende des außenpolitischen Höhenflugs Merkels hoffen, die in der Innenpolitik bisher nur Minimalziele erreicht hat.

Um die linke Konkurrenz zu bekämpfen, setzt die SPD auf ihr stärkstes Pferd am linken Flügel: Andrea Nahles, eine der drei designierten Beck-Stellvertreter. Und statt Beck, des rheinland-pfälzischen Provinzpolitikers mit dem Habitus eines Weinkönigs, könnte ein anderer aus dem SPD-Führungsquartett Merkel die Kanzlerschaft streitig machen: Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Der empfahl zwar gerade Beck für den Job. Doch das gehört zu den politischen Gepflogenheiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2007)

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