Großbritannien: Arme immer ärmer, Reiche immer reicher

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5,3 Millionen Briten leben heute von Sozialhilfe. Ausgerechnet die Tories machen das zum Wahlkampfthema.

London. „Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit.“ 150 Jahre, nachdem Charles Dickens mit diesen Worten seinen Roman „A Tale of Two Cities“ eröffnete, gibt es kaum passendere Worte, um die Gegenwart zu beschreiben. Großbritannien ist heute die viertreichste Nation der Welt, zugleich leben 13 Millionen Menschen – 22 Prozent der Bevölkerung – unter der Armutsgrenze.

Seit 15 Jahren wächst die Wirtschaft. Doch von dem Glauben, dass dies allen zugute kommen müsse, hat sich ausgerechnet die seit zehn Jahren regierende Labour Party ein für allemal verabschieden müssen. Wenn Margaret Thatcher einst erklärte: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“ – Labour unter Tony Blair und Gordon Brown hat dafür gesorgt, dass der Zusammenhalt tatsächlich verloren ging: Niemals klaffte die Einkommensschere weiter auseinander. Ein Spitzenmanager verdient heute im Schnitt pro Jahr soviel wie 127 Durchschnittslohn-Bezieher, die jeweils 26.000 Pfund (nach Steuern) nach Hause tragen.

Die üppigen Bonuszahlungen sind da noch gar nicht eingerechnet. Mehr als 7,5 Milliarden Pfund schütteten die Unternehmen der Londoner City Ende 2006 aus. Prämien von bis zu 50 Millionen Pfund riefen sogar den sonst nicht gerade für sozialen Aktivismus bekannten Erzbischof von Canterbury auf den Plan, der derartige Summen als „obszön“ geißelte.

Preis des Wirtschaftswunders

Das aber hat einen Preis. Ein Teil des britischen Wirtschaftswunders wird auf Pump und mit Niedrigstlöhnen geschaffen. Zwar hält sich Labour die Einführung eines Mindestlohns zugute, mit den 5,35 Pfund pro Stunde kann man sich aber in London gerade eine U-Bahnfahrt in der Kernzone leisten. Während im Finanzbezirk die Lichter nicht mehr ausgehen, sinken Teile des Landes in Armut.

Deren Kosten sind enorm. Nach Berechnungen des Centre for Social Justice kosten Sozialausgaben den Staat jedes Jahr 102 Milliarden Pfund. Armut ist aber nicht nur teuer: Sie gebiert Gewalt, Sucht, Krankheit und Kriminalität. In allen Vergleichen schneidet Großbritannien hier erschreckend ab: In Teilen von Glasgow liegt die durchschnittliche Lebenserwartung niedriger als in Gaza.

Das Centre for Social Justice ist eine Gründung des früheren Parteichefs der Konservativen, Iain Duncan Smith, der den Kampf gegen die Armut zu seinem persönlichen Kreuzzug gemacht hat. Warum in der viert-reichsten Nation der Welt so viele Menschen in Armut leben, führt er in einer nun vorgestellten Studie auf fünf Ursachen zurück: Zusammenbruch der Familien; Alkoholismus und Drogen; fehlende Ausbildungschancen; Arbeitslosigkeit und staatliche Abhängigkeit; und Schulden. Mehr als gigantische 1,3 Billionen Pfund Schulden beträgt die Last der britischen Haushalte.

Ein Heilmittel (unter 200 Vorschlägen, darunter höhere Abgaben auf Alkohol) sieht die Studie in der Stärkung der Familie – etwa durch steuerliche Förderungen, wie sie Alleinerziehenden gewährt werden. Fast die Hälfte aller britischen Kinder wird unehelich geboren, und 25 Prozent wachsen in Single-Haushalten auf – der höchste Wert Europas. Die Studie versucht zu zeigen, dass diese Kinder von Anfang an benachteiligt sind. Damit entstehe eine „Kultur der Abhängigkeit“, die dazu geführt habe, dass 5,3 Millionen Briten von Sozialhilfe leben.

Schlechte Labour-Bilanz

Der Aufschrei der Regierung war vorhersehbar. „Uns sind alle Kinder gleich viel wert“, und: „Antworten aus dem 19. Jahrhundert auf Fragen des 21. Jahrhunderts“ lauteten noch die freundlicheren Kommentare. Dass es jedoch eines Konservativen wie Duncan Smith bedurfte, den drohenden Kollaps der Gesellschaft aufzuzeigen, ist ein verheerendes Urteil über zehn Jahre Labour-Regierung.

Die Antworten mögen sie noch suchen, ein Wahlkampfthema haben die Konservativen damit gefunden. Labour wird schwer erklären können, dass nach zehn Jahren Regierungsverantwortung 70 Prozent aller jugendlichen Straftäter aus Single-Haushalten kommen und trotz Milliardenausgaben 25 Prozent aller Alleinerziehenden keine Ausbildung haben.

WAS SIE VERDIENEN

Durchschnittsgehälter: Krankenschwester 25.282 Pfund im Jahr. Busfahrer 23.000 Pfund, U-Bahnfahrer 31.000 Pfund. Spitzenmanager drei Mio. Pfund. 4200 Investmentbanker erhielten im Jahr 2006 Zusatzprämien von mehr als einer Mio. Pfund.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2007)

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