Die vergessenen Kinder des Krieges

(c) Die Presse (Christian Ultsch)
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Reportage. Um die sudanesische Hauptstadt Khartum legt sich ein Slumgürtel mit mehr als zwei Millionen Menschen, die vor Bürgerkriegen geflüchtet sind.

Sadiq spricht nicht viel. Er steht neben seinem Eselskarren und starrt in den Sand. Und wenn er spricht, dann reißt er sich jedes Wort einzeln aus dem Mund. „Al-Harb“-„Krieg“, sagt er nur. Deswegen sei er vor zwei Monaten weg aus seiner Heimat Darfur, weg aus dem Flüchtlingslager bei El-Geneina. Sein Dorf? Niedergebrannt. Wann? 2004. Seine Familie? Lebt. Alle? „Sie töteten zwei meiner Brüder vor meinen Augen.“

Sadiq opferte seine Ersparnisse, um in einem Lastwagen nach Khartum zu kommen. Er glaubte, dass er in der sudanesischen Hauptstadt mehr Geld verdienen könne als in Darfur. Doch jetzt lebt der dunkelhäutige Bauernsohn gar nicht in der großen Stadt, sondern 35 Kilometer außerhalb. In einer sandigen Einöde, in einer Siedlung aus Lehm, Stroh und Plastiksäcken. In Gabarona, was so viel heißt wie: „Man hat mich gezwungen.“ In einem der unzähligen Flüchtlingsslums, die sich wie ein staubiger Gürtel um Khartoum legen.

Sadiq verkauft Wasser. Es spritzt aus allen Ritzen des verbeulten blauen Tanks, der auf den Eselkarren geschnallt ist. Das große Geld hat Sadiq hier noch nicht verdient. Einmal waren es 16 Euro pro Woche, dann nur sechs Euro. Ein Drittel der Einkünfte geht für den Esel drauf, der nicht ihm gehört, erläutert Sadiq. Ein zweites Drittel für das Heu, das der Esel frisst.

Sobald nur irgend möglich möchte der 21-Jährige zurück in seine Heimat. Das sagen fast alle. Und dann bleiben sie – Monate, Jahre, Jahrzehnte. Am Stadtrand von Khartum sammelt sich das menschliche Strandgut der Kriege, die der Sudan seit seiner Unabhängigkeit vor 51 Jahren nahezu unablässig gegen sich selbst führt.

Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge hat es hierher verschlagen. Sie kommen aus allen Richtungen. Die meisten aus dem christlichen Süden, der vor kurzem noch in einen massenmörderischen Bürgerkrieg mit den islamischen Herrschern des Nordens verwickelt war. Und seit vier Jahren strömen sie auch aus Darfur nach Khartum. Eins sind die Völker des 38 Millionen Einwohner zählenden Sudan nur im Elend. Die Regierung duldet die Vertriebenen ihrer Kriege. Mehr nicht. Die Flüchtlinge haben nur wenige Anwälte. Doch es gibt einen, der sich mit aller Kraft für sie einsetzt. Kein Jurist, ein ehemaliger Shell-Manager: Diakon Kamal Tadros. Seit Jahren sorgt sich der charismatische 74-Jährige mit seiner „Vincent de Paul Society“ um die Flüchtlinge. Die Caritas Österreich unterstützt ihn dabei.

Das Wasser, das Sadiq aus Darfur in Gabarone verkauft, stammt aus dem Brunnen, den Kamals „Vincent de Paul Society“ gebohrt hat. Das Wasser wird gratis an Schulen verteilt; auch die Allerärmsten müssen nichts zahlen. Schmutziges Wasser ist eine der Hauptursachen der Krankheiten, die in den Flüchtlingsquartieren grassieren. Für den Durchfall, den die freiwilligen Ärzte in den mobilen Kliniken der „Vincent de Paul Society“ so häufig diagnostizieren. Und auch für die langen Würmer (Bilharziose), die sich erst in der Leber vollfressen, bevor sie dann durch die Haut der Menschen wieder ausschlüpfen. Die meisten erkranken an Malaria. Eine Krankheit, die zum Tod führt, wenn sie nicht bekämpft wird.

Die mobilen Kliniken sind überlebensnotwendig. An diesem Tag stehen die Schulkinder in Omdurman Schlange, um behandelt zu werden. Wieder die üblichen Diagnosen: Malaria, Durchfall, Würmer. Das hier ist keine normale Schule. Auf dem schlammigen Schulhof picken Hühner zwischen Plastiksäcken Abfall auf. Die Klassenzimmer sind Bambushütten, mit Stroh gedeckt. Wenn es regnet, stehen die Klassenzimmer unter Wasser. Deshalb ist an solchen Tagen schulfrei. Warum es seit 1987 nicht möglich war, wetterfeste Schulen zu bauen? „Es fehlen die Mittel, auch die rechtlichen“, sagt Diakon Kamal. Die islamische Regierung erteilt nicht gerne Genehmigungen für den Bau christlicher Schulen. Bis zu 55 Schüler drängen sich in den fensterlosen Bambushütten; unterrichtet werden Kinder von sieben bis 17 Jahren. Als Tafeln verwenden die Lehrer, selbst Flüchtlinge, gepressten Karton, der mit einer schwarzen Schicht überzogen ist und gekrümmt an der Wand lehnt, verbogen vom Regen.

Leben im Backofen

Diakon Kamal Tadros ist ein Stratege im Kampf gegen das Elend. Er will den Kreislauf der Armut durchbrechen. Und deshalb setzt er auf Leistung. Stolz und fordernd zugleich ruft er die Buben im Waisenhaus in Mayo auf. Wer ist Klassenbester, wer ist Zweitbester, wer Dritter? Kamal will sie an Hochschulen sehen. Und wer nicht klug genug dafür ist, soll ein Handwerk lernen, in einer der Berufsschulen, die Kamal aufgebaut hat. Nur raus aus dem Elend. Raus aus der Lehmhütte, in der Mary, 30, mit ihrem Mann Joseph seit Jahren haust: Sandiger Boden, keine Fenster, zwei Eisenbetten – sonst nichts: In Backöfen wie diesen leben die beiden, so lange sie denken können. Wenn es regnet, laufen sie aus dem Lehmhaus, weil sie Angst haben, dass es einbricht.

Sie sind aus dem Süden gekommen. Sie denken an Rückkehr, weil ja nun Frieden herrscht. Doch wie sie es anstellen sollen, wissen sie nicht. Wird es dort wenigstens Bambus-Schulen geben für ihre zehn Kinder? Mobile Kliniken? Viele sind bisher nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Denn im Süden hat der Bürgerkrieg fast alles zerstört.

Vor neuem Krieg im Süden?

Ja, Politiker aus dem Süden sind jetzt an der Zentralregierung in Khartum beteiligt. Ja, es gibt seit 2005 ein umfassendes Friedensabkommen. Doch wird der Friede halten? In Khartum raunt man sich schon zu, dass sich die Armee und die Milizen der SPLM (Sudan People's Liberation Movement) bereits auf eine neue Kriegsrunde vorbereiten. In einem Referendum soll der Süden 2011 entscheiden, ob er beim Sudan bleiben oder unabhängig werden will. SPLA-Chef John Garang hätte es vielleicht geschafft, den Süden im Sudan zu halten. Doch er starb knapp nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens bei einem Hubschrauberabsturz. Sein Nachfolger Salva Kiir, der jetzige Vizepräsident des Sudan, will, so munkelt man, den Süden in die Unabhängigkeit führen. Dann aber gäbe es Krieg. Denn im christlichen Süden, den der Norden so lange islamisieren und mit militärischer Hand unter der Knute halten wollte, schlummern die meisten Ölreserven des Sudan.

Eine Mahlzeit pro Tag

Die Kinder in Isbah wissen nichts von alldem. Sie haben Hunger. Einmal pro Tag kommen sie ins Baby-Fütterunsgzentrum Isbah der Vincent de Paul Society. 570 sind es heute wieder. Artig setzen sie sich im Kreis auf und warten, bis die Blechschüsseln kommen. Diesmal gibt es Reis mit Linsen. Gierig verschlingen die Kinder die Mahlzeit. Es ist ihre erste und oft einzige Mahlzeit des Tages.

Davor hatten sie den Abfall nach Essbarem durchstöbern müssen. Nach der Ausspeisung holt Soraya drei ihrer sechs Kinder ab. Soraya lebt seit zehn Jahren in Flüchtlingscamps in und um Khartum. Ihr Mann ist arbeitslos. „Vielleicht kehren wir bald wieder in unsere Heimat zurück“, sagt sie. Sie kommt aus den Nuba-Bergen im Zentralsudan, wo die Regierung ab Mitte der Achtzigerjahre Aufständische bekämpfte. Der Krieg, von dem in Europa kaum jemand gehört hat, ist seit 2002 vorbei. Soraya ist immer noch im Flüchtlingscamp.

HILFSAKTION

Caritas Österreich unterstützt Hilfsprojekte im Sudan. 15 Euro: Essen für eine Familie(ein Monat). 26 Euro: Halbjahres-Überlebensration für ein Baby. 30 Euro: Sauberes Trinkwasser für eine Familie. [Christian Ultsch]

Caritas-Spenden-Konto:
PSK 7.700 004, BLZ 60 000; Kennwort: Augustsammlung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2007)

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