Anschläge in Istanbul: Die Türken trauen ihrem Staat nicht mehr

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Für das tödliche Attentat auf eine Einkaufsstraße am Samstag macht Ankara die Terrormiliz Islamischer Staat verantwortlich. Die Bürger leben in ständiger Angst, das Vertrauen in die Regierung ist erschüttert.

Samstagabend brennt normalerweise die Luft auf der İstiklâl-Straße, der aufregendsten Fußgängerzone in Europa. Unter den Lichterketten bummeln Familien mit Kinderwagen, Touristengruppen und Scharen von schwatzenden Jugendlichen so dicht gedrängt, dass alle Schulter an Schulter gehen. In einigen Seitengassen fiedeln Stehgeiger über voll besetzten Tischen, in anderen dröhnt Livemusik aus einem Dutzend Lokale zugleich.

So war es bisher in Istanbul, aber so ist es nun nicht mehr. Still und dunkel blieb die İstiklâl-Straße am Sonntag, geisterhaft still sind auch die anderen Straßen und Plätze der sonst so quirligen türkischen Metropole.

Jagd auf weitere IS-Attentäter

Nach Angaben von türkischen Medienberichten wurde der als Anhänger des sogenannten Islamischen Staates (IS) gesuchte türkische Staatsbürger Mehmet Öztürk als jener Täter identifiziert, der sich am Samstag auf der İstiklâl neben einer Gruppe israelisch-amerikanischer Touristen in die Luft sprengte. Ob diese Besucher Öztürks Ziel waren oder der Sprengsatz verfrüht explodierte, ist noch nicht geklärt. Mindestens drei weitere potenzielle IS-Selbstmordattentäter sollen sich noch in der Türkei aufhalten.

„Ich mache heute gar nicht erst auf“, sagte der Manager eines hundert Meter vom Explosionsort an der İstiklâl-Straße gelegenen Lokals, der überhaupt nur gekommen ist, um zu sehen, ob seine Bar noch Fenster hat. Der für den Abend engagierten Band aus Europa hatte er schon vor dem neuesten Anschlag abgesagt, denn die Kundschaft bleibt bereits seit den Anschlägen von Ankara aus: Zum Vergnügen geht niemand mehr aus in den Metropolen der Türkei.

Der Terror ist plötzlich allgegenwärtig geworden im Alltag der Türken. Die Angst vor neuen Anschlägen überschattet die Genugtuung über die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels zwischen der EU und der Türkei mit der Aussicht auf ein baldiges Ende der Visapflicht für Türken in Europa: Bis Ende Juni soll der Visazwang aufgehoben werden. Dafür muss Ankara 72 Vorgaben erfüllen. Die türkische Regierung soll sicherstellen, dass dies schnell geschieht. Türken müssen bisher in einem aufwendigen Verfahren Visa beantragen. Dafür hat sich die Türkei verpflichtet, alle Flüchtlinge, die ab Sonntag illegal von der Türkei nach Griechenland übersetzen, ab April zurückzunehmen.

Jeden kann es treffen – das war die Botschaft der jüngsten Gewalttaten. Zu den Opfern des jüngsten Anschlags gehörte außer den ausländischen Touristen und einem Kastanienverkäufer auch eine vierköpfige Familie aus der südtürkischen Stadt Adana, die auf Kurzurlaub in Istanbul war. Der Vater und eine zweieinhalbjährige Tochter liegen schwer verletzt im Krankenhaus, die Mutter und eine siebenjährige Tochter wurden leichter verletzt.

Kein Vertrauen in die Regierung

Die Botschaft ist bei der türkischen Bevölkerung angekommen. „Man traut sich ja nicht mehr aus dem Haus“, jammerte eine türkische Hausfrau am Wochenende.

Vor allem vor den öffentlichen Verkehrsmitteln geht die Angst um, seit die Attentäter von Ankara letzte Woche eine Autobombe in einen voll besetzten Bus rammten. „Wir überlegen, ob wir umziehen sollen, damit mein Mann nicht mehr mit dem Bus fahren muss“, sagte eine Lehrerin.

Verstärkt wird die Verunsicherung vieler Türken durch das Gefühl, dass ihre eigene Regierung nicht mit offenen Karten spielt. Mit Durchhalteparolen beschwören die Behörden die Bürger, dem Staat zu vertrauen, dem Terror nicht zu weichen und unbeirrt ihrem Alltag nachzugehen – obwohl längst überdeutlich geworden ist, dass der Staat sie nicht schützen kann.

„Glaubt es nicht“, beschwor der Gouverneur von Istanbul die Bevölkerung, als die deutschen Behörden nach einer Terrorwarnung letzte Woche die deutsche Schule und das Konsulat schlossen.

Das Volk glaubte dennoch lieber den Deutschen und blieb zu Hause – neben dem Nieselregen ein Grund dafür, dass auf der İstiklâl-Straße am Samstagvormittag nur vereinzelte Fußgänger unterwegs waren, als die Bombe zündete.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2016)

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