Flucht: Bulgarien wird zum neuen Einfallstor in die EU

An der griechisch-mazedonischen Grenze gibt es kein Weiterkommen. Viele Flüchtlinge weichen über Bulgarien aus.
An der griechisch-mazedonischen Grenze gibt es kein Weiterkommen. Viele Flüchtlinge weichen über Bulgarien aus.(c) APA/AFP/DANIEL MIHAILESCU
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In Österreich werden knapp 200 Flüchtlinge pro Tag aufgegriffen. Denn auf dem Balkan tut sich eine neue Route auf. Sie führt durch Bulgarien. Ein Afghane erzählt, wie ihn die Polizei dort verprügelt und eingesperrt hat.

Wien/Belgrad. Knapp acht Monate nach dem Drama auf der A4 mit 71 toten Flüchtlingen im Kühlraum eines Lkw breitet sich das Schlepperwesen in Mitteleuropa wieder aus. Der „Presse“ liegen die aktuellen Zahlen vor. In den vergangenen beiden Wochen gab es in Österreich im Schnitt 195 Aufgriffe pro Tag und 121 Asylanträge. Tendenz steigend. Die Schließung der Westbalkanroute hat den Flüchtlingsstrom also gebremst, aber nicht gestoppt.

Zugleich wird die Lage unübersichtlich und gefährlicher: Die Menschen kommen nicht nur in Zügen, sondern wieder gepfercht in Lastwagen. Die Behörden nehmen von ihnen teils erst Notiz, wenn sie an der Erstaufnahmestelle in Traiskirchen auftauchen, was auf eine hohe Dunkelziffer hindeutet.

Viele Wege führen nach Österreich. Neben der Mittelmeerroute, wo sich derzeit etwa in Italien Tausende Flüchtlinge sammeln, tut sich auch auf dem Westbalkan ein Alternativweg auf: Er führt über die Türkei (manchmal über Griechenland) nach Bulgarien, Serbien, Ungarn und weiter nach Österreich. Am Dienstag etwa gab es die Hälfte der Aufgriffe in Ostösterreich.

„Bulgarien war das Schlimmste“

Flüchtlinge wie der Afghane Ams haben Bulgarien durchquert. Mit der ersten Dusche seit Tagen hat der stoppelbärtige Mann die bisher erlebten Schrecken seiner Odyssee vorläufig weggespült. Vor zwei Monaten machte er sich von seiner Heimatstadt Kundus auf den Weg gen Frankreich, erzählt er in dem privaten Durchgangslager Miksaliste in Serbiens Hauptstadt, Belgrad. Als IT-Mitarbeiter einer Bank habe er einen „guten Job“ gehabt: „Doch die Selbstmordattentäter, die täglichen Angriffe der Taliban: Es war einfach kein Leben mehr.“

Über den Iran gelangte er mit Schlepperhilfe in die Türkei und von dort nach Bulgarien. „Das war das schlimmste Land. Als die Polizei uns im Wald aufgriff, schlugen sie uns – und nahmen uns unser Geld und Telefone ab.“ Einen Monat sei er in einem Lager in der Nähe von Sofia inhaftiert gewesen: „Wir erhielten kaum Essen und Wasser. Es war furchtbar.“ „Mehrere Tausend Dollar“ habe ihn die Flucht bereits gekostet, Mittel für seine geplante Weiterreise nach Frankreich habe er nun keine mehr. Er bat deshalb einen Freund, ihm noch einen Kredit zu gewähren: „Sobald er das Geld hierher geschickt hat und Allah es will, werde ich nach Ungarn weiterreisen.“

Containersiedlung in Serbien

Mit den Temperaturen steigt in Serbiens Hauptstadt wieder die Zahl der durchreisenden Zwangscamper. Die in den letzten Monaten nahezu verschwundenen Iglu-Zelte am Belgrader Busbahnhof und am nahen Park der ökonomischen Fakultät sind wieder vermehrt zu sehen. 200, manchmal 300 bis 400 Flüchtlinge in der Containersiedlung des Miksaliste, erzählt der 24-jährige Helfer Goran. Viele seien Afghanen, Pakistani, Syrer, Marokkaner, manche aus Ländern wie dem Sudan oder Sri Lanka: „Die meisten gelangen über Bulgarien, einige noch aus Mazedonien mithilfe von Schleppern nach Serbien. Alle reisen inzwischen über Ungarn weiter nach Westen. Werden sie dort von der Polizei gefasst, werden sie zwar zunächst inhaftiert. Aber danach kommen sie in ein offenes Lager – und schlagen sich sofort weiter in Richtung Westen durch.“

Die Rückgänge der Zahl der Flüchtlingsboote in der Ägäis wertet die EU-Kommission als Beleg, dass das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler „zerschlagen“ sei. Ganz anders sieht das Radoš Djurović, Direktor des Belgrader Zentrums zum Schutz für Asylsuchende: „Die Balkanroute ist nicht geschlossen, die Geschäfte der Schleppernetzwerke sind wieder am Brummen.“ Die Flüchtlinge seien zwar in nicht mehr so großer Zahl und langsamer unterwegs: „Aber es sind wieder Tausende, die durch Serbien Richtung Norden ziehen. Nicht am Tag, aber im Monat.“ 80 Prozent kämen dabei über Bulgarien. Mit Ungarn und Bulgarien sind just zwei Vorreiter von Europas Selbstauszäunung zu den wichtigsten Transitetappen mutiert. In Ungarn wurden im ersten Quartal 5589 illegale Grenzgänger aufgegriffen. Tendenz steigend. Anfang dieser Woche waren es 174 pro Tag. Da Serbien deren Rücknahme wegen des Grenzzaunstreits verweigert, dürften die meisten über Österreich nach Westen gelangen.

Doskozil: „Strikte Kontrollen“

Zwar hat Budapest die Ausbesserung der zerschnittenen Zäune zu Serbien angekündigt und will sich nun auch von Rumänien abgrenzen. Doch wegen des „löchrigen Zauns“ an der serbischen Grenze hat Österreich die Errichtung eines 30 Kilometer langen Stacheldrahtwalls an Ungarns Grenze angekündigt. Die Zahlen zeigen, dass es Ausweichbewegungen der Schlepper gibt, sagt Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil der „Presse“. „Solange es keine ordentliche Außengrenzsicherung gibt, ist das Etablieren von strikten Grenzkontrollen im Fokus der Bundesregierung.“

„Die Zäune sind umsonst und eine Illusion“, meint dagegen in Belgrad Radoš Djurović: „Flüchtlinge lassen sich davon nicht aufhalten, solange die Ursachen ihrer Flucht dieselben bleiben.“

AUF EINEN BLICK

Migrationsströme. Nach der Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze suchen die Flüchtlinge Ausweichrouten: So ist etwa die Zahl der Neuankömmlinge über das Mittelmeer in Italien im März auf 9600 gestiegen. Eine weitere Route führt über Bulgarien. In Österreich gab es zuletzt im Schnitt 195 Aufgriffe pro Tag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2016)

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