Hamas: Pragmatische Wende der Islamisten

Interview. Islamwissenschaftler Rosiny ortet pragmatische Wende bei Hamas und Hisbollah.

Die Presse: Neue Anschlagsversuche islamistischer Extremisten wie zuletzt in Großbritannien und Deutschland, eine neue Eskalation im Konflikt um das iranische Atomprogramm, wachsender Einfluss radikaler moslemischer Gruppen in Nahost: Muss sich Europa vor einer religiösen Weltmacht Islam fürchten?

Stephan Rosiny: In der öffentlichen Debatte werden derzeit unterschiedliche Richtungen und Faktoren zusammen geworfen. Die Anschlagsversuche etwa in Deutschland haben ganz andere Wurzeln als beispielsweise die Atompolitik des Iran. Bei den versuchten Attentaten auf Züge handelt es sich vermutlich um Attentäter, die aus dem ideologischen Umfeld des globalen Jihadismus stammen.

Das iranische Atomprogramm ist vor allem als national motiviertes Projekt zu deuten. Hamas und Hisbollah sind lokal in ihren Heimatländern operierende Gruppierungen, die keine staatsfeindlichen Aktivitäten in Europa entwickeln. Viele islamistische Gruppen im Nahen Osten sind verfeindet. Wenn also das Bedrohungsbild einer einheitlichen Weltverschwörung entworfen wird, so entspricht dies nicht der Realität.

Im Nahen Osten haben zwei radikale Gruppen - Hisbollah und Hamas - politische Entscheidungsmacht erlangt. Hat sie diese Teilnahme an der politischen Macht verändert?

Rosiny: Zunächst: Die genannten Bewegungen haben ihre politische Macht durch demokratische Wahlen erlangt. Sie haben der Bevölkerung über Jahre soziale Dienste offeriert und vor Ort eine nützliche Politik betrieben. Sie sind mehr aus pragmatischen denn aus religiösen Motiven gewählt worden. Am Beispiel der Hisbollah, die schon seit 1992 in libanesischen Parlamenten sitzt, kann man feststellen, dass sie sich durch die Machtpartizipation verändert hat. Sie ist Allianzen eingegangen. Selbst dort, wo sie eine komfortable Mehrheit der Sitze hat, bemüht sie sich, auch ihre ehemaligen politischen Gegner mit ins Boot zu holen.

Dasselbe gilt ja auch für die Hamas: Obwohl sie bei den Wahlen Anfang des Jahres eine ausreichende Mehrheit im Parlament erzielte, hat sie versucht, die Fatah an der palästinensischen Regierung zu beteiligen. Das ist ein Lernerfolg beider Parteien gegenüber früheren Zeiten, als sie noch glaubten, Staat und Gesellschaft allein beherrschen zu können. Ihre Beteiligung an der politischen Macht hat eine pragmatische Wende eingeläutet und sie zu kompromissbereiten Kräften gewandelt.

Führt sich das Argument einer pragmatischen Wende nicht ad absurdum, wenn die Außenpolitik dieser Gruppen betrachtet wird? Nach wie vor treten sowohl die Hamas als auch die Hisbollah für die Vernichtung des israelischen Staates ein.

Rosiny: Die Formulierung der "Vernichtung Israels" ist eine in westlichen Medien gebrauchte Formulierung. Mit Vernichtung assoziieren wir in Europa die nationalsozialistische Rassenvernichtung der Juden. Hamas und Hisbollah propagieren aber nicht die Ermordung der israelischen Juden, sondern sie fordern deren "Rückkehr in ihre Heimatländer". Diese Forderung ist sicher inakzeptabel, aber sie ist kein zweiter Holocaust. Sie erkennen das Existenzrecht des Staates Israel nicht an. Allgemein wurden Hamas und Hisbollah durch die Beteiligung an der Regierung auch außenpolitisch kompromissbereiter.

War es ein Fehler der Europäischen Union, aber auch der US-Regierung, dass sie sich nach der Wahl in den Palästinensergebieten einem Dialog mit der Hamas verweigert haben?

Rosiny: Den Boykott der neu gewählten Hamas-Regierung halte ich in der Tat für einen Fehler. Die Europäische Union hätte pragmatischer mit der Hamas umgehen sollen. Und der Boykott hat meines Erachtens wesentlich zur Eskalation der letzten Monate beigetragen.

Erstens, weil sich die sozioökonomische Lage der Palästinenser dramatisch verschlechtert hat, was naturgemäß zu einer Radikalisierung führt. Zweitens, weil man den Islamisten gezeigt hat, dass Demokratie zwar propagiert wird, aber wenn dann eine islamistische Bewegung gewählt wird, man rasch einen Rückzug macht.

Drittens hat die Isolierung der Hamas dazu geführt, dass sich die Fatah gestärkt gefühlt hat. Fatah-Anhänger haben in den Palästinensergebieten für viel Unruhe gesorgt. Beim Karikaturenstreit etwa haben nicht Hamas-, sondern Fatah-Anhänger EU-Einrichtungen zerstört. Sie taten alles, um der neuen Regierung die Aufnahme ihrer Tagesgeschäfte zu erschweren und hofften, nach einem Sturz der Hamas wieder ihre Macht und Pfründe zurückzuerlangen.

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