Polen und Iren ohne Grundrechte?

(c) EPA (Jacek Turczyk)
  • Drucken

Wie erst jetzt bekannt wurde, haben sich neben Großbritannien auch zwei weitere Länder Ausstiegsmöglichkeiten aus dem EU-Werte-Katalog ausverhandelt.

Wien. Wenige Tage nach dem EU-Gipfel wird erst das Ausmaß der zahlreichen vereinbarten Sonderregelungen zum neuen EU-Vertrag offensichtlich. So bekamen nicht bloß Großbritannien, sondern auch Polen und Irland die Möglichkeit, eine Gültigkeit der Grundrechte-Charta auf ihrem Staatsgebiet zu verhindern.

Wie beim Gipfel anwesende Diplomaten der „Presse“ bestätigten, wollen beide Länder prüfen, ob der Werte-Katalog mit ihrem Rechtssystem vereinbar ist. Warschau und Dublin haben nun bis zum Ende der Regierungskonferenz Zeit, zu entscheiden, ob sie ebenso wie Großbritannien ein sogenanntes „Opt-out“ in Anspruch nehmen. Die Regierungskonferenz soll bis Ende Oktober die Details des EU-Reformvertrags verhandeln.

In Irland könnte die Frage der Teilnahme an der Grundrechte-Charta freilich noch eine politische Debatte auslösen. Denn die Regierung in Dublin muss als einzige in der Union ein Referendum über den neuen EU-Vertrag abhalten.

Die Grundrechte-Charta listet nicht nur allgemeine und übliche europäische Werte wie Gleichberechtigung, Freiheit der Religionen oder Datenschutz auf. Sie legt auch soziale Rechte wie das Recht auf bezahlten Urlaub, das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen oder das Streikrecht fest. Der scheidende britische Premierminister Tony Blair hatte beim EU-Gipfel darauf hingewiesen, dass solche Rechtsnormen mit dem liberalen Arbeitsmarkt auf der britischen Insel unvereinbar wären.

Unmittelbar nach dem vereinbarten Protokoll, in dem Großbritannien eine Ausnahme bei der Grundrechte-Charta erhalten hat, heißt es im Schlussdokument des Gipfels: „Zwei Delegationen behielten sich das Recht vor, sich diesem Protokoll anzuschließen.“ Diese beiden Länder sind eben Irland und Polen.

Schutz der Sittlichkeit

Warschau hat offenbar Bedenken, dass die Grundrechte das national-katholische Moral-System beeinflussen könnten. So erhielt Warschau auch die Zusicherung: „Die Charta berührt in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten in den Bereichen öffentliche Sittlichkeit, des Familienrechts sowie des Schutzes der Menschenwürde und der Achtung der körperlichen und moralischen Unversehrtheit.“ Polen hat in letzter Zeit durch seine raue Behandlung Homosexueller für Aufregung in Menschenrechtskreisen gesorgt.

Ungeklärt ist nach wie vor, warum die polnische Führung schließlich einem schlechteren Kompromiss zugestimmt hat, als jener Variante, die sie zuvor noch abgelehnt hatte.

So waren Polen sieben zusätzliche Abgeordnete angeboten worden. Zwar erhielt der polnische Präsident Lech Kaczynski das Zugeständnis, dass die von Warschau beeinspruchte neue Machtaufteilung im EU-Rat erst nach 2014 gültig wird. Nachdem sich im Schlussdokument des Gipfels aber weder die sieben Europaabgeordneten noch andere Zugeständnisse an Polen fanden, wird vermutet, dass Ratsvorsitzende Angela Merkel bilaterale Versprechungen gemacht hat. Diese könnten etwa die Ostsee-Pipeline zwischen Russland und Deutschland betreffen oder deutsche Unterstützung bei den nächsten Finanzverhandlungen in der EU. „Wahrscheinlich gab es noch irgendwelche finanziellen Zusicherungen“, so ein Diplomat.

MERKEL. Empörung

„Wprost“, ein rechts-konservatives Wochenblatt sorgte in Deutschland mit seinem jüngsten Titelbild
für Empörung. Die Fotomontage zeigt Kanzlerin Merkel, wie sie den polnischen Regierungszwillingen Lech und Jaroslaw die Brust gibt.

Der Chefredakteur verteidigte die von vielen als Geschmacklosigkeit empfundene Darstellung als „kleinen Spaß“. [EPA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.