Türkei machte 2006 kaum Fortschritte

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EU-Bericht. Brüssel stellt Ankara kein gutes Zeugnis aus, hofft aber auf Verbesserung. Größte Defizite diagnostizierte man im Bereich der Meinungsfreiheit.

Berlin/Wien/Brüssel. Die zahlreichen Gegner eines künftigen EU-Mitglieds Türkei brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass der größte Beitrittswerber mit Volldampf in Richtung Europäischer Union braust. Denn die EU-Kommission stellt der Türkei für das vergangene Jahr ein schlechtes Zeugnis aus. „Die Umsetzung von Reformen war ungleichmäßig und hat sich seit 2006 verlangsamt“, heißt es in dem Fortschrittsbericht, der am 6. November präsentiert werden soll und bereits jetzt der „Financial Times Deutschland“ vorliegt.

Die größten Defizite ortet die Kommission im Bereich der Meinungsfreiheit. Ein Stein des Anstoßes ist der „Knebelparagraf“, der die Herabwürdigung des Türkentums unter Strafe stellt und immer wieder als Vorwand für politische Verfolgung herhalten muss. Die Zahl der unter diesem Paragrafen verfolgten Personen habe sich 2006 verdoppelt, 2007 hätte es einen weiteren Anstieg gegeben. Die türkische Regierung hat sich bisher nicht eindeutig geäußert, wie sie damit weiter verfahren will. Mal ist von Abschaffung die Rede, mal von Reform, mal von Beibehaltung.

Gleichzeitig zieht die Kommission aber auch die schwierige politische Lage in der Türkei in Betracht, in der 2007 Parlament und Präsident gewählt wurden. „Es ist kein negativer Bericht“, meint ein EU-Diplomat zur „Presse“. „Es wird berücksichtigt, dass die Türkei seit März 2007 politisch praktisch blockiert war.“

Daher sieht Brüssel bei aller Kritik auch einige Hoffnungsschimmer. So wird zwar der signifikante politische Einfluss der Streitkräfte auf die Politik als negativ bewertet, positiv wird gesehen, dass es dennoch zu keiner Eskalation gekommen sei. Die Kommission ist auch zufrieden, dass Verfassungsreformen intensiv diskutiert werden.

Verheugen für Beitritt

Einer der prominentesten Kommissionsvertreter, der deutsche Vizepräsident und EU-Industriekommissar Günter Verheugen macht sich daher weiterhin klar für den EU-Beitritt der Türkei stark. „Diese Frage ist von weltpolitischer Bedeutung. Niemand – auch nicht Frankreichs Präsident Sarkozy – wird das Risiko auf sich nehmen, den Prozess zu stoppen“, meint Verheugen in Anspielung auf den mächtigsten Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft. Für Sarkozy gehört die Türkei nicht zu Europa und sollte statt in der EU in einer „MU“, einer Mittelmeer-Union, untergebracht werden.

Vor der Auslandspresse in Berlin sagte Verheugen, seit jeher ein vehementer Verfechter einer Integration Ankaras: „Die Türkei braucht Klarheit aus Europa. Gegenwärtig empfängt sie jedoch nur gemischte Signale. Die Reformen in der Türkei hängen aber davon ab, wie verlässlich und glaubwürdig die europäische Politik ist. Die Türkei hat bewiesen, dass sie fähig und willens ist, Reformen schnell durchzuführen.“

Es sei bedauerlich und zugleich verständlich, dass die Zustimmung der Türken zu einem EU-Beitritt mittlerweile auf einen Tiefstand von nur noch 40 Prozent gefallen sei.

VERHANDLUNGSSTAND

Mit der Türkei wird seit 3. Oktober 2005 über den EU-Beitritt verhandelt. Die Gespräche schleppen sich allerdings eher schlecht denn recht dahin.

Im Dezember 2006 wurden die Verhandlungen über einige Kapitel wegen des Streits um Zypern eingefroren.

Bereits abgeschlossen ist erst eines von 35 Kapitel (Wissenschaft und Forschung), drei Kapitel sind eröffnet (Statistik, Unternehmen und Industrie, Finanzkontrolle), acht liegen auf Eis (freier Warenverkehr, Dienstleistungsverkehr, Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Zollunion, Außenbeziehungen).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2007)

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