Wien in Waffen: Zum 1. Mai 1890

Die erste Maidemonstration der neuen Arbeiterpartei sorgte für Hysterie im Bürgertum. Die "Neue Freie Presse" malte besonders schwarz.

"Die Soldaten stehen in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet. Frauen und Kinder wagen sich nicht mehr auf die Gasse..."

Wir schreiben Donnerstag, 1. Mai 1890. Mit dem Leitartikler der "Neuen Freien Presse" zittert Wiens Bourgeoisie vor der ersten großen Arbeiterdemo in der "Reichshaupt- und Residenzstadt". Für 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Erholung und 8 Stunden Schlaf wollen die Proletarier auf die Straße gehen - die Arbeit einfach liegen lassen, um einen Praterspaziergang zu machen!

Just in der Hauptallee, die normalerweise den Herrenreitern, Offizieren und Pferdegespannen vorbehalten ist. Ein symbolträchtiges Vorhaben, werden damit doch Adel, Hof und Militär in die Schranken gewiesen. Angeblich sollen sich bis zu 100.000 "Proleten" zusammenrotten!

Weltuntergangsstimmung im Bürgertum, Hysterie beim Weltblatt der Monarchie, der "Neuen Freien Presse".
Schon Wochen zuvor hatten die sozialen Spannungen zugenommen. In der gesamten Monarchie gab es Arbeiterunruhen. Lange vor dem großen Tag zitterte die "NFP" dem "Mob" entgegen. "Zusammenrottungen" wurden gemeldet, die Hiobsbotschaften getreulich in der bürgerlichen Zeitung rapportiert: In Brünn gab der Ritter von Schoeller der vorgebrachten Bitte der Arbeiterschaft statt, den 1.  Mai arbeitsfrei zu geben. Die Arbeiter erklärten dafür, am 2. Mai "die Arbeit anstandslos wieder aufnehmen zu wollen".

"Bäckerstrike" in Graz

In Graz ordnet das Corpskommando nächtliche Patrouillengänge an. "Der Bäckerstrike ist nunmehr zur Thatsache geworden. 500 strikende Bäckergehilfen zogen [...] durch die Straßen der Stadt nach Gösting."
In Mährisch-Ostrau - die Redakteure der "NFP" sind ganz außer Atem - wird das einstöckige Haus des Getreidehändlers Eisler, "eines achtbaren, rechtschaffenen Kaufmannes, geplündert [...] Das Getreide und Mehl wurden verstreut. Sämmtliche Hausthiere, die Pferde und Kühe, selbst der Haushund, wurden erschlagen."

"Unter der Arbeitern in den Gewerken der Wiener Gasgesellschaft, besonders unter jenen der Erdberger Werke, macht sich seit einigen Tagen eine Bewegung bemerkbar", registriert die "NFP" besorgt in ihrer täglichen Kolumne "Zur Arbeiterfrage". Auch die vielen Wiener Metallwerke bilden einen steten Herd der Unruhe. Die Gehilfen dort verlangen eine 12-stündige Normalarbeitszeit, die Einhaltung der Sonntagsruhe, gesunde Wohn- und Schlafstätten. Die "Zusammenrottung" dieser Arbeitssklaven kann zu diesem Zeitpunkt aber noch mit Waffengewalt niedergehalten werden.


Am 28. April 1890 schließlich wird das Militär mobilisiert, die Wiener Garnison in Bereitschaft versetzt, die Reservisten haben sich beim Magistrat zu melden. Es hängt die "Publicierung des Standrechtes" in der Luft. "In Neutitschein brennt es! Eine Compagnie Infanterie wurde einwaggoniert."

Der 1. Mai naht bedrohlich. "Viele Marktleute vom Lande haben schon angekündigt, dass sie morgen mit ihren Wagen und Warenvorräten nicht nach Wien kommen werden." Was wiederum die tüchtigen Hausfrauen animiert, Lebensmittel zu hamstern.
Im Morgenblatt des 1. Mai schließlich schießt die "Neue Freie Presse" ihre Salven ab. "Der Heilige, welcher an diesem Tage in allen Ländern gefeiert wird, heißt Karl Marx... Der 1. Mai ist ein Vorstoß jener socialistischen Partei, welche die Grundlage der heutigen Gesellschaft zertrümmern, das private Kapital aufheben, mit dem System des Lohnes brechen und die Nationen durch die physische Gewalt der Arbeiter unterjochen möchte! Dies wird jedoch niemals gelingen!"

Wien steht in Waffen. Kaiser FJ I. nimmt am Morgen den Séjour bei Frau "Sisi" in der kaiserlichen Villa im Lainzer "Thiergarten", wie die Hofnachrichten melden. Gegen Mittag füllt sich der Volksprater immer dichter mit spazierenden Arbeitern im Sonntagsstaat. Sie kommen in Gruppen, schlendern Richtung Hauptallee - und nichts passiert!

Stefan Zweig beschreibt das denkwürdige Ereignis: "Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen, mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteiabzeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum ersten Male betretenden Nobelallee in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste wurden geballt..."

Und nichts ist passiert

Am 2. Mai ist der - von den Medien herbeigeschriebene - Spuk wie verflogen. Der (ungenannte) Leitartikler in der "NFP" kann sich vor Staunen gar nicht fassen: "Der mit ängstlicher Spannung erwartete Feiertag der Arbeiter ist nun vorüber, und er hat die Unglücksprophezeiungen der Pessimisten glänzend widerlegt. Es gibt in diesem Augenblicke nur eine Stimme darüber: Die Arbeiterschaft hat sich musterhaft benommen und wir wüßten Leute genug, die mit einem gewissen Hochmuth auf das Proletariat hinabschauen und doch von diesen Männern der Arbeit lernen könnten, wie man eine politische Demonstration mit Würde, Anstand und Achtung vor dem Gesetz vollführt. Keine Gewaltthat, keine Ruhestörung, nicht die geringste der befürchteten Ausschreitungen!" Dass sich hauptsächlich die "Neue Freie Presse" gefürchtet hatte, erwähnt man tags darauf besser nicht.

Bestürzte Aristokratie

Ganz gab sich das Bürgertum nicht geschlagen. Im "Pester Lloyd" erschien 1909 folgende Notiz: "Im Landesverband der katholischen Hausfrauen hielt die Präsidentin, Gräfin Ladislaus Károlyi, einen Vortrag über die Dienstbotenfrage. Das Problem, welches alle Schichten der Gesellschaft interessiert, wurde nun auch aus einem aristokratischen Gesichtswinkel beleuchtet. [...] Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft stand eine ganze Volksschichte plötzlich ohne Stütze und Beschirmung von Seiten ihres Brotherrn da und wußte ihre Freiheit nicht zum allgemeinen Wohle zu gebrauchen.

Zu alldem kam noch der kulturelle Fortschritt, der die Post, den Telegraphendienst, Dampfschiffe und Eisenbahnen auch der ärmeren Klasse zugänglich machte, so daß ihr Blick sich weitete, ihr Hang zur Scholle gelockert wurde und sich in ihr eine merkwürdige Neugier nach der Ferne, nach dem Fremden regte. Mit dem Gefühl der vollkommenen Unabhängigkeit schwand auch der bedingungslose Respekt gegen den Brotgeber, und jetzt sei eben die christliche Caritas berufen, neue ethische Werte zu schaffen..."

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