Pfiffe für Musil

Grimmig, analytisch, treffsicher. Unter Ständestaatlern und Nazis: Robert Musils politische Schriften, jetzt neu herausgegeben und aus- führlich kommentiert.

Man hat dem „Mann ohne Eigenschaften“ immer wieder vorgeworfen, nicht episch, sondern essayistisch, aphoristisch, oratorisch zu sein (auch der marktbeherrschende deutsche Literaturkritiker zählt zu diesen Stimmen). Und tatsächlich leistet das Buch ja in allen diesen literarischen Gattungen Brillantes. Ein Aphorismus, stellvertretend für viele: „Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt.“ Zugleich zeichnet das Romanfragment sein hoher Reflexionsgrad zum Wesen des Politischen aus. Was Wunder, dass der „MoE“ nicht nur das Lieblingsbuch Bruno Kreiskys war, wie dieser immer wieder betont hat, sondern – gerade erst war es zu erfahren – auch jenes des Wiener Bürgermeisters Häupl ist.

Der Leiter des Robert-Musil-Instituts und Ko-Editor der digitalen Musil-Edition, der Klagenfurter Germanist Klaus Amann, hat nun in einem schmalen Band sämtliche dezidiert politischen Texte Musils neu herausgegeben und ausführlich kommentiert, und diese Texte decken genau diese Genre-Trias von Essayistik, Aphoristik und Rhetorik ab. Die Edition hat dabei mit der Schwierigkeit zu kämpfen, ganz disparates Material, Entwürfe, Werkstatt-Stichworte, ausgearbeitete Partien und halb fertige Notizen präsentabel zu machen. Die Lösung, die gefunden wurde, überzeugt.

Die Aufzeichnungen sind in den Jahren 1933, 1934 und 1935 entstanden, in Berlin unter dem Eindruck der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und, nach Musils Rückkehr nach Österreich, im Wien des Ständestaats. Musil hat permanent Geldsorgen, weiß nicht, wie er sich und seine Frau erhalten soll. In dieser Situation hofft er darauf, Essays oder politische Aphorismen in größeren Zeitschriften unterzubringen. Die Sammlung der „Germ“-Aphorismen (nach „Germany“) entsteht angesichts der Nachrichten über das „Dritte Reich“ und könnte als Komplementärlektüre zu Karl Kraus' „Dritter Walpurgisnacht“ oder zu den peniblen Sprachbeobachtungen Victor Klemperers dienen: „Gleichgeschaltet werden Lampen, Maschinen und – Deutsche.“ Nur mit dem Umstand, dass Musil das „Fackel“-Heft 890 vom Juli 1934 noch nicht kannte, scheint folgender Splitter erklärbar: „Karl Kraus und Hitler. Wenn Karl Kraus den Vorlesungssaal betritt, steht das Publikum so lange, bis er sich setzt. Und das, obzwar er völlig versagt hat. Sie lieben ihn ,erst recht‘. Das ist das Verheerende an der Krausianerei... Sie halten ihm Treue, auch wenn er es nicht verdient. Ist das einfach Schaltungs- und Ausschaltungswirkung? Blindes Liebesbedürfnis? Bedürfnis nach Illusion?“

Parallel zum Entsetzen über die neuen deutschen Verhältnisse steht Musils Grimm über den österreichischen Ständestaat, den er lakonisch als „Wildgansgesellschaft“ abtut. Über die Absichten der „Kulturpolitikskultur“ notiert er: „Wir wollen nicht, dass Ihr glaubt, wir tun der Kultur etwas zuleide. Wir trennen nur von Allem einen Vor-Teil für das Katholische ab, und den Rest teilen wir zu zwei gleichen Teilen zwischen dem Katholischen und dem Übrigen.“ In Reaktion auf die christlichsoziale Personalpolitik in Wissenschaft und Kunst lautet sein drastischer Befund: „Am meisten entspricht das aber den Klerikalen, wo die Kirche die Unabhängigkeit des Laiengeistes nicht anerkennt und der innerösterreichische Surm auf sie scheißt“ (Tagebuch). Was hätte Musil zum innerösterreichischen Surm wohl heute zu sagen? Angesichts einer flächendeckenden Verbauung mit Fertigteil-Einfamilienschlösschen Marke „Schneeweißchen und Wüstenrot“, schön versteckt hinter Hunderte Kilometer langen Sicht- und Lärmschutzwänden, angesichts einer staatlichen Fernsehanstalt, die die Gehirne verkleistert mit Dutzendprodukten der „Vergnügungsindustrie“ (oder „Gemütsindustrie“, auch dies Musilsche Schlüsselbegriffe), angesichts einer Schuschnigg-Nachfolgepartei, die noch immer den Bürgern ihr Familienbild oktroyieren möchte?

Nach Esssayistischem und Aphoristischem enthält der Band zwei Reden. Der erste – sehr akklamierte – Vortrag ist betitelt „Der Dichter in dieser Zeit“ und wurde aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich“ im Dezember 1934 im Saal des Wiener Ingenieurs- und Architektenvereins gehalten. Es ist heute nicht mehr allgemein bekannt, dass Musil und Hofmannsthal von 1923 bis 1928 die beiden Vorsitzenden dieser Schriftstellervereinigung waren und insbesondere Musil sich intensiv für die Rechte seiner Kollegen engagierte. Es bestand für ihn kein Widerspruch zwischen dem Beharren auf Individualität des geistig Schaffenden und seinem Eintreten für das Urheberrecht und die soziale Absicherung seiner Berufsgenossen. Musils Festansprache handelt vom Spannungsverhältnis zwischen Kollektivismus und Individualismus. Er beharrt darauf, dass der Träger der Kultur das Individuum sei, der schöpferische Einzelne, das Genie. In einem Satz, der allerdings nur im Entwurf steht, geht er so weit, auszusprechen: „Der Dichter ist eine seltene Erscheinung. Er tritt nicht in Verbänden auf.“

Vortrag Numero zwei ist jene Rede, die Musil am 22. Juni 1935 beim „Internationalen Schriftsteller-Kongress zur Verteidigung der Kultur“ in Paris hielt und mit der er heftigen Protest hervorrief. Auch hier vertrat Musil seine antikollektivistische Position und hielt deutlich Distanz nach rechts und links, was von einem Auditorium, das insgeheim die gesamte Veranstaltung als Manifestation gegen den Faschismus plante (treibende Kraft des Kongresses war Johannes R. Becher), nicht sehr wohlwollend aufgenommen wurde (ein Augenzeuge sprach sogar davon, er sei ausgepfiffen worden). Musils „Fauxpas“ bestand darin, auch an dieser Stelle zu postulieren: „Mit Verteidigung der Kultur weiß ich nicht viel anzufangen. Wohl aber mit der Verteidigung des Einzelnen als ihrer Quelle.“

Was an diesen Texten zu rühmen ist, ist ihre stupende Treffsicherheit. Christoph Bartmann hat in seiner Rezension von Karl Corinos 2003 erschienener monumentaler Musil-Biografie davon gesprochen, dass Musil mit einem „Genauigkeits-Gen gesegnet oder geschlagen“ gewesen sei. Der analytische Zugang, die Bemühung um strikte Beweisführung verdanken sich offensichtlich nicht alleine Musils Ausbildung (der absolvierte Techniker beendete das Studium der Psychologie und Philosophie mit einer Dissertation über Ernst Mach), sondern sie sind vermutlich feste Bestandteile seines Wesens. Schon der 19-Jährige nennt sich im Tagebuch „monsieur le vivisecteur“. Und offensichtlich ist zwischen den folgenden beiden Erkenntnissen sein Nachdenken und Aufschreiben angesiedelt: „Politik ist Wille und nicht Wahrheit.“ – „Kann man zur Genialität erziehen? Zur Dummheit kann man es.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2007)

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