„Einfach so“ stirbt man nicht

Verstörend: Navid Kermanis Roman „Kurzmitteilung“.

Wenn ihr Tod ohne Grund war, musste es auch mein Leben sein.“ Mit der Entschiedenheit des Gesagten ist das fast ein irreversibles Urteil – und mindestens ebenso fragwürdig. Der Satz gilt einer Zufallsbekanntschaft, einer Kollegin, von deren plötzlichem Tod der Ich-Erzähler in seinem Zweitwohnsitz in Spanien erfährt. Eine SMS: „maike anfang ist gestorben, die mit uns noch whisky trinken war. Einfach so.“ Aber einfach so stirbt man nicht und einfach so werden Romane nicht geschrieben.

Die Frage nach dem Warum wird fast zum Kontinuum der Lektüre: Warum ist der Empfänger der Nachricht, ein knapp vierzigjähriger Eventmanager, von diesem Ereignis so irritiert? Was bewegt ihn an dem Tod der jungen Frau, die er doch nur flüchtig gekannt hat, so sehr, dass er sich in den Zug setzt und nach Köln zurückfährt? Was bezweckt er damit? Will er die Hintergründe des Todes ergründen? Am Begräbnis teilnehmen? Der Toten gedenken?

Dariusch, ein Deutscher orientalischer Herkunft, gerät immer tiefer in eine an sich fremde Geschichte hinein. Er benimmt sich, als wäre er ein guter Freund gewesen, versetzt sich in eine seltsame Betroffenheit, in eine scheinbare Vertrautheit, die erst nach dem Tod beginnt und eigentlich nur Surrogat ist. Aber wofür?

Er mischt sich unter die trauernden Hinterbliebenen, er geht an den Ort des Todes und findet sich „wie ein Schauspieler im falschen Stück“. Er tritt mit der Mutter in Kontakt und mit Maikes Freund. Aber warum? Mit Maike Anfang hatte er doch fast nichts gemeinsam, sie war eine Frau, „mit der er kaum mehr geteilt hatte als einen Rosebank und den verwirrten Blick vorm Abschied“. Ist das mögliche Gemeinsame erst eine Projektion im Nachhinein? Ein Anspruch, der sich so nie erfüllt hätte? – Die emotionale Frage, mit der sich der Leser konfrontiert glaubt, beantwortet dieser Text nicht. Er trägt vielmehr zur Irritation bei. Mit mehreren Frauen steht Dariusch in intimer Beziehung. Mit Nähe hat das alles wenig zu tun – und das wäre wohl auch mit der neuen Kollegin nicht anders gewesen, auch wenn er ihr gegenüber „so ein Gefühl“ gehabt hat.

Das glaubt er zumindest, als Maike Anfang tot ist und ihn die Tatsache des Unumkehrbaren verstört. Aber vielleicht ist gerade das der ultimative Kick in einer Welt der Konzerne, die von Gefühlen so wenig durchsetzt ist wie die Managersprache von Authentizität. Aber kann man sich gegen die Gesetze des Erfolges überhaupt noch auflehnen, braucht es erst das Bewusstsein des Todes, um die Alltäglichkeit einer selbstverständlich gewordenen Welt zu durchkreuzen? Genau das aber scheint dem Autor gelungen zu sein, in kurzen, absatzlosen Kapiteln, die sich dann wie der Subtext zu einer unsichtbaren Katastrophe lesen.

Navid Kermani, Jahrgang 1967, lässt völlig ungezwungen im Leser ein verstörendes Nachdenken aufkeimen. Meistens geht so etwas schief, erst recht, wenn auch noch unterschiedliche kulturelle Hintergründe bemüht werden, die eine Deutung mitbewirken sollen. Dass diese Geschichte vor dem Hintergrund der Terroranschläge von London im Jahr 2005 angesiedelt ist, scheint eine Marginalie zu sein – schließlich will man nichts überschätzen, wenn der Erzähler (und hinter ihm sein Autor) seine islamische Herkunft mitreflektiert und Vorbehalte gegen die islamische Gesellschaft ebenso anbringt wie gegen die westliche Welt. Dazwischen steht ein unbefangen Schreibender, der mit seiner Sprache der Kultur seiner Herkunft uneinholbar voraus ist, und was ihn trotz globalisierter Mythen immer noch von der westlichen Welt distanzieren könnte, reflektiert und beherrscht er mit erzählerischer Souveränität. Die gilt auch dann oder erst recht dann, wenn er seinen Ich-Erzähler immer tiefer in einen Zwiespalt oder, mehr noch, in ein existenzielles Niemandsland geraten lässt. Das Leben bei Kermani verbleibt im Ungesagten – nicht erst am Schluss, wenn sich alles einer endgültigen Klärung entzieht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2007)

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