Das Tischtuch anzünden

Eine Art King-Lear-Paraphrase: Carol Loeb Shloss' Biografie der Tochter von James Joyce.

Töchter haben, so scheint es, Konjunktur. Nach einem eher fragwürdigen romanhaften Buch über Schnitzlers Tochter Lili im Vorjahr und einer sorgfältig gearbeiteten und mit viel Lob bedachten Biografie der Martha Fontane von Regina Dieterle legt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Carol Loeb Shloss (Stanford) eine Beschreibung des Lebens von Lucia Joyce (1907 bis 1982) vor, der Tochter von James Joyce. (Ihre unglückliche Geschichte wurde auch bereits mehrfach auf die Bühne gebracht, am eindrucksvollsten 2004 in London in einem Stück von Michael Hastings.)

Geboren in Triest, aufgewachsen in Zürich und Paris, macht sie eine Ausbildung als Tänzerin, tritt auch ein paar Jahre hindurch quer durch Europa mit verschiedenen Ensembles auf. 1928 besucht sie auf Schloss Klessheim bei Salzburg die Elizabeth-Duncan-Schule, die Eltern verbringen die Sommerwochen ebenfalls in der Festspielstadt, was neben den bekannten Aufenthalten von Joyce in Innsbruck und Feldkirch einen weiteren Österreich-Bezug herstellt.

Es gibt eine Reihe von Amouren, darunter mit späteren Weltberühmtheiten wie Alexander Calder oder Samuel Beckett. Als sie in ihren späten Zwanzigern zunehmend verhaltensauffällig wird (beispielsweise, indem sie mit einem Möbelstück nach ihrer Mutter wirft, indem sie das Telefonkabel durchschneidet oder das Tischtuch anzündet), gerät sie in die psychiatrische Maschinerie. Ab 1935 ist ihr Leben eine Abfolge von Aufenthalten in geschlossenen Anstalten, in der Schweiz (auch als Patientin C. G. Jungs), in Frankreich, zuletzt im englischen Northampton, wo sie am 12. Dezember 1982 stirbt.

Joyce sorgt sich um das Ergehen seiner Tochter, hält den Kontakt zu ihr aufrecht mit Besuchen, Briefen, dem Engagement von pflegenden Helfern. Zuletzt kämpft er mit den Behörden, um Lucia aus dem von Nazis besetzten Frankreich ausreisen lassen zu können, wo ihr Euthanasie-Maßnahmen drohen. Nach seinem Tod im Jänner 1941 (von dem Lucia aus der Zeitung erfährt) bleibt sie ohne jeglichen persönlichen Kontakt zu ihrer Familie, ihre Mutter sieht sie nie mehr, und ihr Bruder Giorgio besucht sie in vier Jahrzehnten ein einziges Mal. Joyce-Freunde, -Verehrer und -Forscher interessieren sich zwar für sie, aber ihre Isolation muss eine kaum vorstellbare gewesen sein.

Die Biografin stellt in ihrer minutiösen Chronik der mit jahrelangem Quellenstudium belegten Ereignisse immer wieder die Frage nach dem Grad von Lucia Joyces „Geistesgestörtheit“. Sie schreibt der spannungsgeladenen Familienkonstellation einen wesentlichen Anteil an dieser fatalen Entwicklung zu. Die Möglichkeit einer kindlich- inzestuösen Beziehung zum Bruder wird ebenso angedeutet wie eine Abtreibung.

Mangelnde Geborgenheit im Elternhaus, der stete Vorrang der Schreibarbeit ihres Vaters vor allem anderen, nicht zuletzt die Unmöglichkeit, eigene Ambitionen erfolgreich zu verwirklichen, scheinen Ursachen ihres seelischen Zusammenbruchs gewesen zu sein. Und so wie die lebende Tochter immer mehr in Verwahranstalten abgedrängt wurde, sollten nach ihrem Tod möglichst alle Zeugnisse, Briefe und Krankenakten, die an sie erinnerten, verschwinden.

Loeb Shloss berichtet von den vielen Hindernissen, die ihr von den Joyce-Nachkommen beim Versuch, Lucias Geschichte nachzuzeichnen, bereitet wurden. Sogar ein Prozess wurde vom Joyce Estate gegen sie angestrengt, um ihr das Zitieren aus Briefen des Vaters an die Tochter zu verbieten. Ein Gericht entschied im März 2007 zugunsten der Autorin und wies das „overly aggressive copyright enforcement“ zurück.

Ein wesentlicher Teil des Buches stellt die große Affinität zwischen Lucia und Joyces letztem Roman „Finnegans Wake“ zur Diskussion. Eine Art interlinearer Vater-Tochter-Dialog finde mit dem Schreiben dieses Buches statt, lautet die These. Und diese methodisch immerhin anfechtbare Verknüpfung von realer Lebenssituation und poetischer Verdichtung gelangt dann doch zu einigen verblüffenden Einsichten.

Lucia, das Licht, der Augapfel ihres Vaters, der lebenslang mit schweren Sehproblemen zu kämpfen hatte, wird in dieser Herangehensweise schließlich zur Cordelia in einer gleichermaßen tragischen King-Lear-Paraphrase. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2007)

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