Die Wut und das Mitgefühl

Ihren Sohn hat Phyllis Rodri- guez bei den Anschlägen vom 11. September 2001 verloren. Mit der Mutter eines der Mittäterschaft Beschuldigten verbindet sie heute eine Freundschaft. Ein Gespräch.

D ie Namen von Phyllis und Orlando Rodriguez, Aicha el Wafi und Zacarias Moussaoui werden in die Geschichte eingehen – aus sehr unterschiedlichen Gründen. Die Ereignisse des 11. September 2001 haben sie zusammengeführt.
Phyllis lebt als Lehrerin und Künstlerin in New Jersey, ihr Mann, Orlando, ist Universitätsprofessor. Aicha el Wafi ist eine französische Beamtin marokkanischer Herkunft und die Mutter von Zacarias, dem beschuldigen 20. Luftpiraten. Phyllis hat ihren Sohn Greg verloren, er war eines der 2759 Opfer, die im World Trade Center starben. Aicha hat ihren Sohn verloren – an eine Ideologie des Hasses und der Zerstörung. Die beiden Frauen versuchen in singulärer Weise, durch ihren persönlichen Dialog für Frieden und Versöhnung politische Signale zu setzen.


Phyllis Rodriguez, die Ereignisse des 11. September 2001 haben Ihnen Ihren Sohn Greg genommen, der im World Trade Center gearbeitet hat. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Es war ein klarer, schöner Morgen. Mein Mann ist früh an die Fordham University in die Bronx gefahren, und ich habe einen Morgenspaziergang zum Fluss gemacht. Als ich zurückkam, hat mich der Portier in unserem Haus mit der Nachricht empfangen, dass im World Trade Center ein Feuer ausgebrochen sei. Ich bin die vier Treppen hinaufgestürzt und habe gleichzeitig das Fernsehgerät und den Anrufbeantworter angestellt. Mein Sohn arbeitete in den Türmen.
Zu meiner Erleichterung hörte ich Gregs Stimme: „Es gab einen schrecklichen Unfall im WTC, ich bin okay, ruf Elizabeth an.“ Ich habe seine Frau, Elizabeth, angerufen, die ein Flugzeug ganz tief über das Zentrum von Manhattan fliegen gesehen hatte. Sie befürchtete das Schlimmste, aber ich war zuversichtlich, er musste mich schon von außerhalb des Gebäudes angerufen haben. Greg hat im 103. Stockwerk des Nordturms gearbeitet, der zuerst von den Selbstmordpiloten getroffen wurde. Als das zweite Flugzeug einschlug, wusste ich, es war kein Unfall. Der Nachmittag verging, es wurde dunkel, und schließlich war es Nacht. Ich weigerte mich zu glauben, dass das Unvorstellbare passiert war. Aber am nächsten Tag war Gregs Tod und der Tod Tausender anderer Menschen nicht mehr zu leugnen.

Knapp nach dem Attentat haben Sie einen Brief im Internet gepostet, eine emotionale Botschaft an den US-Präsidenten, innezuhalten und nicht übereilt Rache zu üben: „Unser Sohn starb als Opfer einer unmenschlichen Ideologie. Denken wir gemeinsam nach über eine vernünftige Antwort, die Frieden und Gerechtigkeit bringt. Wir sollten nicht als Nation zur Unmenschlichkeit beitragen.“

Wir haben diesen Brief drei Tage nach den Anschlägen verfasst. Das hat uns vielleicht geholfen, unsere Trauer zu rationalisieren, aber wir wussten, dass unsere Meinungen gehört werden und Gewicht haben. Von offizieller Seite gab es keine Reaktion. Aber wir waren überwältigt von der Zuwendung der Menschen weltweit, sie waren begierig nach unseren Botschaften.

Zacarias Moussaoui, einem jungen Franzosen marokkanischer Abstammung, wurde als vermutlichem 20. Entführer in den Vereinigten Staaten der Prozess gemacht. Aicha el-Wafi, die Mutter von Zacarias, hat am Rande der Gerichtsverhandlungen den Wunsch geäußert, Familienangehörige der Opfer der Anschläge zu treffen. Waren Sie davon überrascht?

Ja. Ich habe mich gewundert, was ihre Gründe waren. Die Antwort kam an einem Novembertag 2002. Sie wollte ihr Mitgefühl für unseren Verlust ausdrücken und sich für den Schmerz entschuldigen, den wir durchmachten. Es war ihr wichtig, uns zu zeigen, wie sehr sie mit uns fühlte, während sie selbst mit ihrem unglaublichen Schmerz zurechtkommen musste.

Wie war dieses Zusammentreffen mit Aicha für Sie und Orlando?

Das erste Treffen war sehr berührend. Wir waren acht Amerikaner und alle sehr nervös. Ich war erstaunt, wie sehr mich unser Zusammentreffen beruhigte. Dieser wunderbare Einfall, einfach zusammenzukommen, hat uns in einer einmaligen Art aneinander gebunden.

Was hat Sie dazu motiviert, Aicha nach dem ersten Zusammentreffen wiedersehen zu wollen? Sie haben ja sogar Französisch gelernt, um mit ihr direkt kommunizieren zu können.

Meine treibende Kraft war sicher das Gefühl, dass mich als Mutter etwas mit ihr verband, dass ich eine Verbindung zu ihrem Schmerz und ihrer Fassungslosigkeit darüber, dass ihr Sohn andere verletzen wollte, herstellen konnte. Ich habe durch diese Beziehung mit Aicha auch auf die antimuslimischen Gefühle in unserer Gesellschaft reagiert. Ich wollte deutlich machen, dass ich nicht alle Muslime wegen dieses ungeheuren Anschlages, der mir meinen Sohn genommen hat, verurteile.
Im April 2005 entschloss ich mich dann, Aicha durch den Prozess gegen ihren Sohn zu begleiten, ich war während ihrer Besuche in Virginia und New York immer mit ihr, bis zur Urteilsverkündung, lebenslänglich ohne Bewährung.

Die Familien der Opfer haben entsprechend US-amerikanischer Gesetzgebung das Recht, im Lauf des Prozesses angehört zu werden. Üblicherweise werden diese Aussagen von der Anklage verwendet, um die höchstmögliche Strafe durchzusetzen. In Zacarias' Fall gab es aber eine überraschende Wendung.

Die Anklage hat 35 Angehörige der Opfer in den Zeugenstand gerufen. Mein Mann war einer von 13 tapferen Familienangehörigen, die für die Verteidigung und damit gegen die Todesstrafe ausgesagt haben. Das war ein einmaliges Ereignis. Aicha und ich mussten auch sehr vorsichtig sein, unsere Freundschaft sollte nicht öffentlich werden, die Medien hätten eine große Geschichte daraus gemacht. Orlando war bei unseren Treffen nicht dabei, man hätte ihm sonst vorwerfen können, dass er seine Aussage nicht unbeeinflusst machte.

Sie scheinen überzeugt zu sein, dass Zacarias nicht an den Anschlägen beteiligt war, sonst wäre es Ihnen wahrscheinlich nicht möglich gewesen, Aicha während des Prozesses in dieser Weise zu unterstützen.

Wir sahen, dass es nicht ausreichend Beweise gab, Zacarias mit den Anschlägen in direkte Verbindung zu bringen, obwohl er ein Mitglied der Al Kaida war. Wir beobachteten sehr genau, dass er als Sündenbock aufgebaut wurde, von den Medien als Monster porträtiert, um zu zeigen, dass aktiv etwas gegen den Terror unternommen wird. Diese symbolische Gerechtigkeit steht allen Prinzipien von wahrer Gerechtigkeit entgegen. Wir wollten Aicha unbedingt zeigen, dass sie unsere Sympathie und Bewunderung in ihrem Unglück hatte.

Die internationale Diplomatie und Politik bemüht sich heute weltweit um einen offenen Dialog und um Verständnis in Extremsituationen. War die Reaktion auf Ihre ungewöhnliche Beziehung mit Aicha durchwegs positiv?

Die Menschen sind in erster Linie überrascht, es gibt natürlich auch Kritik und negative Kommentare. Diese sind eine gute Gelegenheit, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Sie sind Teil des „Forgiveness“-Projektes. Verzeihen ist eine sehr persönliche Kategorie. Auf dieser Ebene kann der Prozess des Vergebens dazu beitragen, den Aggressor zu entdämonisieren und selbst wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Im Zusammenhang dieses Projektes hat das Verzeihen aber darüber hinaus eine klare politische Komponente.

Für mich bedeutet Verzeihen die Erkenntnis, dass wir zu allem imstande sind, zu Gutem und zu extrem Bösem. Ich habe gelernt, dass mein Leiden sich nicht unterscheidet von dem trauender Eltern in Israel, Ruanda, im Irak oder in Afghanistan. Ich habe gelernt, dass Wut eine ganz natürliche Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen ist, aber mit dieser Wut geht das Mitgefühl für die anderen einher, die auch leiden. Uns ist es so gelungen, nicht bitter und negativ zu werden.

Können wir diesen Zugang, der ein zentraler Bestandteil der Philosophie von „Soft Power“ ist, als politische Strategie nützen?

Ich will und kann militärische Lösungen für soziale und politische Probleme nicht akzeptieren. Wir können täglich beobachten, wie dieser Zugang unsere Situation weltweit instabiler macht. Ich möchte die Menschen ermutigen, ihre Feinde anzusprechen. Ich bin überzeugt, dass wir dadurch eine kraftvolle Bewegung für den Frieden erzeugen können. Und wenn wir wirklich von diesem Zugang überzeugt sind, werden uns sogar die Politiker zuhören.

Sie haben sich sicher schon gefragt, wie Greg auf Ihre Art, zu trauern und Ihre Situation zu bewältigen, reagieren würde.

Ich erinnere mich an Greg, als er 14 war und von einem Sommer in Salamanca zurückkehrte. Er war völlig überrascht, dass die Spanier gegenüber den Franzosen so viele Animositäten hatten. Seine Schlussfolgerung war: Ich hasse Nationalismus. Ich habe gar keine Zweifel, dass er meine Freundschaft mit Aicha wunderbar fände und die Ironie der Situation schätzen würde.

Haben Sie jemals daran gedacht, Zacarias zu besuchen? Und was würden Sie ihm sagen wollen?

Es ist uns nicht einmal erlaubt, ihm zu schreiben. Aber Orlando und ich hoffen, ihn eines Tages zu sehen. Ich würde ihm gerne sagen, wie positiv ich über seine Mutter denke und dass ich mir Sorgen um ihn mache. Ich würde ihm sagen, dass ich gerne verstehen möchte, was er an extremistischen Ideen so attraktiv gefunden hat, und ich würde versuchen, ihm nahezubringen, wie viel Leid seine Ideologie über uns gebracht hat. Meine Hoffnung ist, dass wir einander eines Tages auf einer menschlichen Ebene begegnen können.

Wünschen Sie sich ein Treffen mit US-Außenministerin Condoleezza Rice?

Ich kann durchaus verstehen, warum von offizieller und auch von medialer Seite versucht wird, am Beispiel von Condoleezza Rice zu demonstrieren, dass es für eine afroamerikanische Frau durchaus möglich ist, genauso zu handeln und zu denken wie die üblichen weißen männlichen Machthaber, die traditionell hohe Regierungsposten bekleiden. Wenn ich die Gelegenheit hätte, sie zu treffen, würde ich sie daran erinnern, dass sie auf Vorgänger zurückblicken kann, die in Situationen, die für unser Land bedrohlich waren, Realpolitik zurückstellten und gezielt menschliche Lösungen verfolgten. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.