Heute schon gescannt?

Sicherheit ist wichtig, aber bei weitem nicht alles! Zauberformel Prävention: wie die Angst vor Anschlägen unsere Privatsphäre bedroht.

Nun ist es wieder passiert: ein Massaker, dieses Mal an der Universität in Blacksburg, Virginia, USA, der Schütze ein verrückter Student, mehr als 30 Tote. Bei uns überschlagen sich die Medien tagelang, als ob an einer österreichischen Uni gemetzelt worden wäre, wir machen uns heftige Gedanken über die amerikanischen Waffengesetze – wie üblich. Man könnte über dem traurigen Ereignis im fernen Lande nun wieder zur Tagesordnung übergehen, wäre da nicht diese hartnäckige Frage: Was hätte man tun müssen, um die Tat zu verhindern?

Wo und wann wurde etwas versäumt? Wer ist daran schuld, dass nicht rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen gesetzt wurden? Die Professoren, die Uni-Leitung, der psychologische Dienst, die Polizei? Kurzum, es scheint schließlich festzustehen, dass auch bei uns etwas geschehen muss, und zwar deshalb, damit nicht auch bei uns so etwas geschieht. Die Zauberformel lautet: Prävention, und zwar konsequent, flächendeckend, möglichst immer und überall.

Nun scheint offenkundig, dass dieser Trend zur „Vorbeugung“ unsere Freiheit langfristig bedroht. Sicherheit ist wichtig, aber bei weitem nicht alles, zumal in einer Gesellschaft, die, Terrorismus hin oder her, ohnehin weitgehend sicher ist! Sind wir denn wirklich so blind, um nicht zu bemerken, dass auch bei uns, in Europa, die Angst vor Anschlägen geschürt wird, damit die diversen Sicherheitsdienste und -behörden mehr Zugriff auf unsere Privatsphäre bekommen, was – nebenbei gesagt – hervorragend in die Unternehmensphilosophie der Hersteller von Sicherheitstechnologien passt? Umso verantwortungsloser, wenn Massenmedien das Angsterzeugungsspiel mitspielen.

Da ich selbst an einer Universität unterrichte, kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass mir schon der eine oder andere Student über den Weg lief, der sich in einer Art und Weise verhielt, dass man hätte vermuten können, er könnte unter ungünstigen Bedingungen zu einer Waffe greifen, um mit ihr alle über den Haufen zu schießen. Hätte. Könnte. Hätte können... Lauter Möglichkeiten, deren organisierte, umfassende, durchgreifende Eliminierung bewirken würde, dass sich unsere Universitäten in Hochsicherheitstrakte der Präventivpsychologie, des Bespitzelns, Aushorchens, Weitermeldens, gegenseitigen Misstrauens und Therapierens verwandeln müssten.

Das wäre das Ende der Freiheit. Und wozu? Nur um des Versuchs willen, etwas zu verhindern, nämlich den irgendwann erwartbaren Amoklauf eines Einzelnen, der sich unter Bedingungen, die nicht die eines fugenlosen Gefängnisses sind, ohnehin nicht verhindern lässt. Der aufmerksame Beobachter der Entwicklung gewinnt deshalb den Eindruck, dass die wirkliche Bedrohung unserer freien Gesellschaft von den Befürwortern des Überwachungsstaates ausgeht, die sich auf Terror, organisiertes Verbrechen und Amoklauf berufen, um ihre Interessen unter dem Titel einer Sicherung des Gemeinwohls durchzusetzen.

Im Übrigen hat das Präventionsdenken eine lange, zwielichtige Tradition. Bereits zu Beginn des 19.Jahrhunderts sehen wir den deutschen Arzt und Anatomen Franz Joseph Gall (1758 bis 1828), wie er in den Gefängnissen Preußens und Sachsens spektakuläre Demonstrationen seiner Wissenschaft, der sogenannten „Phrenologie“, liefert. Gall ließ sich Hunderte von Insassen vorführen, betastete ihre Köpfe und gab dem erstaunten Fachpublikum bekannt, wegen welchen Delikts das jeweilige Individuum einsaß. Das ist umso erstaunlicher, alsdie Gallsche Doktrinschon zu ihrer Zeit widerlegt war. Sie lehrte, dass jede verbrecherische Leidenschaft sich in einer besonderen Ausformung des Gehirns zeige, durch die ihrerseits die Formung der aufliegenden Schädelknochen bestimmt werde. Ein Unsinn. Dennoch, im Stadtvogtei-Gefängnis zu Berlin traf Gall auf den kleinen H., einen Jungen, der wegen Diebstahls einsaß. Beim Betasten seines Kopfes diagnostizierte der Phrenologe ein derart stark entwickeltes Organ des „Diebssinnes“, dass er die Empfehlung aussprach, H. erst gar nicht mehr aus dem Gefängnis zu entlassen. H. sei ein Asozialer, der sich bloß noch nicht zur vollen Blüte seiner Sozialschädlichkeit entwickelt habe. In dieser kleinen Episode, die uns von einem Zeitzeugen überliefert ist, zeigt sich wie im Brennglas eine Kontrollfantasie, die Zukunft haben sollte. – 1876 erschien zum ersten Mal das Buch „L'Uomo Delinquente“, der „Geborene Verbrecher“, als dessen Autor der italienische Psychiater Cesare Lombroso zeichnete, der im selben Jahr einen Lehrstuhl für Gerichtsmedizin an der Universität Turin erhielt. Der Grundaussage Lombrosos zufolge gibt es einen Menschentypus, der biologisch zum Verbrechen bestimmt ist. Diese Theorie wäre von den Biologen womöglich gleich ad acta gelegt worden. Doch Lombroso vernetzte sie mit einer Reihe anderer, kriminalpolitisch und kriminalistisch attraktiver Lehren.

Dazu gehörte die Physiognomik, die an sich bereits wissenschaftlich geächtet war, aber nun, durch Lombrosos Studien am Körper und an der Seele des Verbrechers, wieder an Zuspruch gewann. Die Physiognomik hatte in Deutschland eine Blüte im Werk Johann Caspar Lavaters (1741 bis 1801) erlebt, das endgültig beweisen wollte, dass sich der Charakter eines Menschen äußerlich an seiner Gestalt zeige. Dabei wurde der praktische Wert der Physiognomik für die Bekämpfung des Verbrechens gebührend hervorgehoben.

In seinen „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ schilderte Lavater die Segnungen einer Spezialphysiognomik für „Richter und Verhörer“. Der physiognomisch Geschulte sei in der Lage, das Laster aus den Gesichtszügen zu erkennen, deshalb werde man in Zukunft auf Verhörmethoden wie die Folter verzichten dürfen! Außerdem werde man hinkünftig Menschen, deren Verbrechertum sich bereits von ihrem Gesicht ablesen lasse, nicht frei herumlaufen lassen. – Diese Geschichte lehrt: Der Menschenfreund endet rasch bei der Idee der Wegschließung, bevor überhaupt noch eine Straftat begangen wurde.

Das endgültige Aus für den „Lombrosianismus“ schien gekommen, nachdem ihn der Nationalsozialismus für seine Zwecke missbraucht hatte. Doch es existierte eine gewichtige Ausnahme. DieGerichtspsychiatrie bestand seit je darauf, dass es Persönlichkeiten ge-
be, die sogenannten„Psychopathen“, welche aufgrund angeborenerCharakterdefekte, eines fehlenden Gewissensund gesteigerter Triebhaftigkeit dazu neigten, kriminell zu werden.

Die heutige Psychopathieforschung biologischen Zuschnitts ist ein zum Teil dubioses Unterfangen. Einer ihrer weltweit einflussreichsten Vertreter ist der kanadische Kriminologe Robert D. Hare. Hare ist Berater des FBI, außerdem ist er Präsident der Darkstone Research Group, einer Unternehmung, die sich der Entwicklung und dem Gebrauch von Methoden zur Psychopathieerkennung widmet.

1995 veröffentlichte er sein Buch „Without Conscience“, „Gewissenlos“. Das populär geschriebene Werk zeichnet die Psychopathen in grellen Farben als social predators, „soziale Raubtiere“, deren Zahl ständig zunehme. Mindestens zwei Millionen trieben ihr Unwesen allein in Nordamerika, etwa 100.000 davon in New York City. Sie seien promisk und sexuell überdurchschnittlich aktiv. Da sich der typische Psychopath nicht um das Wohlergehen seiner Kinder kümmere, bringe er seine eigenen Gene mit geringem oder gar keinem persönlichem Aufwand in eine günstige Vermehrungslage.

Als erschwerend trete hinzu, dass unsere neokapitalistische Gesellschaft mehr und mehr Eigenschaften dulde, ja positiv auszeichne, die sich in der von Hare selbst entwickelten „Psychopathy Checklist“ finden, zum Beispiel Impulsivität, Unverantwortlichkeit, das Fehlen von Reue.

2006 publizierte Hare zusammen mit dem Unternehmenspsychologen Paul Babiak eine Studie über das Verhalten von Psychopathen in erfolgreichen Unternehmen, wo sie sich – so sinngemäß die Autoren – als Parasiten einnisten, oft rasch zu Stars aufsteigen, um nach einer gewissen Zeit ihren „Wirt“ zurückzulassen, nicht selten ökonomisch lädiert. Der Titel des Buches sagt schon fast alles: „Snakes in Suits“. Und wie immer bei solchen Rundumschlägen beginnen die Metaphern zu mäandern, Parasiten sind eben auch Schlangen, und zwar Schlangen im Business-Anzug.

Hare lässt keinen Zweifel daran, dass alle Versuche, Psychopathen zu therapieren, fehlschlagen müssen, was kriminalpolitisch bedeutet: Hier hilft nur frühe Erkennung, möglichst schon im Kindesalter, Kontrolle und, wenn es sein muss, Abschließung. Andernfalls wird unsere Gesellschaft über kurz oder lang psychopathisch durchseucht und damit letzten Endes zum Untergang bestimmt sein. Eine apokalyptische Perspektive – das ist die hohe Zeit der Prävention!

Moderne Demokratien sind fein ausbalancierte Gemeinschaften. Weil wir es gewohnt sind, in solchen Gemeinschaften zu leben, haben wir oft kein Gespür mehr für die Segnungen, die uns durch die historisch gewachsene Verzahnung von demokratischer Willensbildung, politischer Repräsentation, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten, freier Marktwirtschaft und Sozialstaatsorientierung zuteil werden.

Die westlichen, zumal europäischen Demokratien seit 1945 haben es zuwege gebracht, Gesichtspunkte möglichst großer Freiheit, ökonomischen Wohlstands und sozialer Gerechtigkeit auf eine Weise simultan zu berücksichtigen, die in der Geschichte einmalig ist.

Wir wissen freilich nicht, ob unsere Epoche dauerhaft sein wird, ob der globalisierte Markt die ihm immanenten Krisen abzufedern vermag, ob sich die Freiheit des Einzelnen schützen und zugleich das sozialstaatliche System aufrechterhalten lässt. Was wir vermuten können – und leider müssen –, ist aber, dass das Gesamtsystem langfristig kaum stabil gehalten werden kann, besonders wegen seiner Abhängigkeit von einer ökonomischen Basis, die unkontrollierbar wurde, rasches Wachstum benötigt, Arbeitsplätze wegrationalisiert und dabei soziale Ungleichheiten verstärkt.

Mittlerweile gibt es nicht nur alarmierende Anzeichen dafür, dass die sozialstaatliche Komponente unserer Demokratien von Auszehrung bedroht ist. Es steht auch zu befürchten, dass die Praxis der Freiheit einem Wandel gehorcht, an dessen Ende die Idee der Freiheit selbst nicht mehr dem entsprechen wird, wofür sich die Menschen unseres Kulturkreises so lange, und zum Teil mit großen Opfern, eingesetzt haben.

Natürlich werden wir überwacht, wenn wir uns auf Bahnhöfen, öffentlichen Plätzen, in Banken und großen Kaufhäusern bewegen, seit einiger Zeit auch auf Autobahnen durch die „Section Control“, die man – angeblich – nur zur Geschwindigkeitskontrolle verwenden will, aber praktisch zur Komplettierung von Bewegungsprofilen einsetzen könnte. Könnte! Immer mehr elektronische Kontrollen, die eine Menge bisher ungenützter Möglichkeiten einschließen, werden auch von Privaten etabliert, die damit ihr Eigentum oder die Sicherheit ihrer Kunden besser schützen möchten. Weshalb also sollte sich der Staat prinzipiell zurückhalten, wenn Sicherheitsargumente für die Installierung
von Technologien sprechen, die notfalls eine
Identifizierung von Personen, ihrer Wege, Bewegungen und Aufenthalte gestatten?

Tatsache ist, dass die Öffentlichkeit immer weniger abwehrend auf elektronische Überwachungsmethoden reagiert. Dass jemand beim Internetsurfen auf Sexseiten oder bei einer Handyverabredung mit einer Frau, die nicht die eigene ist, im Zuge einer Polizeioperation gegen das Kinderpornogeschäft oder einen Mädchenhändlerring gleich mitüberwacht wird, mag den sprichwörtlich anständigen Bürger kalt lassen. Zu Unrecht. Denn hier liegt dann ein Malheur vor, das jeder schon deshalb auf sich beziehen sollte, weil die Grundrechte für alle gelten und daher ihre systembedingte Verletzung im Einzelfall uns kollektiv verletzt.

Man kann Identitätskontrollen sicherer machen, indem man Personaldokumente mit biometrischen Daten ausrüstet. Kein Zweifel, das wirkt an der Oberfläche vertrauenerweckend. Betrachtet man allerdings die Biometrie als Teil eines in Zukunft immerhin möglichen Präventionsstaates, der, statt durchgehend mit physischer Gewalt, vorwiegend mit den neuen Sicherheitstechnologien arbeitet, dann erscheint sie in einem weniger freundlichen Licht. Denn biometrische Daten generieren nicht nur Identifikationsspuren, die über das äußere Verhalten von Menschen in der Gesellschaft Auskunft geben. Sie liefern auch Informationen über Gesundheit und psychische Befindlichkeit, wobei heute noch gar nicht klar ist, welche Informationen in welcher Tiefe – Stichwort: DNS – gewonnen werden können.

Zur politischen Klugheit gehört es jedenfalls, angesichts einer ungewissen Zukunft mögliche Szenarien nicht aus den Augen zu verlieren. Ich spreche jetzt als Bürger undPrivatmensch, der in seiner Brieftasche eine E-Card mit sich führt. Dieser elektronische Krankenschein enthält, soweit ich informiert bin, im Augenblick keine Daten, die es gestatten würden, mein Gesundheitsprofil auszulesen, Anhaltspunkte für chronische Leiden, Süchte, psychischen Pathologien zu finden oder etwa die Anzahl der Krankenstände zu eruieren. Aber soweit ich ebenfalls informiert bin, könnten all diese Daten über meine E-Card verfügbar gemacht werden. Und in der Tat gehört einiges davon seit je zu den „angedachten“ Optionen, die mit dem elektronischen Krankenschein verbunden sind, ohne dass derlei Eventualitäten vorerst an die große Glocke gehängt werden.

Könnte mein Arzt aus meiner E-Card ersehen, welche Diagnosen mir bisher gestellt wurden, welche Medikamente ich bisher genommen und welchen Operationen ich mich mit welchem Erfolg bisher unterzogen habe, dann wäre es – so ein Argument – für ihn wesentlich leichter, mir eine adäquate Behandlung zuteil werden zu lassen. „Therapieoptimierung durch Datenvernetzung“ lautet das Schlagwort. Dem hat man auch aus Unternehmerkreisen freundlich zugestimmt. Denn auf diesem Wege könnte man Postenwerber dazu motivieren, ihre E-Card quasi als medizinisches Empfehlungsschreiben zur Einlesung vorzulegen, natürlich auf streng freiwilliger Basis...

Gewiss, das ist ein Szenario, welches man im Tone der Ironie zu schildern vermag. Doch wer weiß, wie lange noch? In den USA spricht man bereits von einer Post-9/11-World, der Präventionswut nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Gemeint ist die Domestic Surveillance, die Überwachung sozusagen im eigenen Haus, bei der es dem Staatssicherheitsdienst NSA erlaubt wurde, US-Bürger ohne Gerichtsbeschluss auszuspionieren, falls der Verdacht besteht, sie seien irgendwie mit irgendwelchen Leuten in Verbindung, die irgendwie im Verdacht stehen, irgendwie terroristisch zu sein. Dieses „häusliche“ Modell ist, zugunsten einer „Optimierung“ des Gemeinschaftslebens, erweiterungsfähig: Durchleuchtung auffälliger Individuen, Bekämpfung des Sozialleistungsmissbrauchs, Erstellung von Gesundheitsprofilen und so weiter. Willkommen in der schönen neuen Welt der Hochsicherheitsdemokratie!

Zum Schluss: Das nächste Massaker irgendeines Verrückten irgendwo auf der Welt wird sich so oder so nicht verhindern lassen. Warum also nicht Widerstand leisten gegenüber den Vordenkern und Praktikern einer Prävention, die unser aller Freiheit, unser Grundrecht auf Privatsphäre bedroht? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2007)

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