Vergoogelt und verkauft

George Orwell und sein „Großer Bruder“: Was ist das schon gegen Google! Wie der Welt größte Internet-Suchmaschine und ihre Dienste unser Leben durchleuchten: eine Warnung.

Von jenen Lesern, die das Internet benutzen, verwenden auch die meisten Google: die mächtige Suchmaschine Google, die großzügige kostenlose Google E-Mail ("Gmail"), Google Earth, mit dem man die Welt erforschen kann, oder YouTube, die Sammlung von Videoclips, die von Benutzern ins Netz gestellt wurden. Manche verwenden auch schon - als Alternative zu Microsoft-Programmen - Google Files, die schon recht passable Textverarbeitung, Tabellenkalkulationsprogramme und Ähnliches anbieten, wobei der Charme vor allem darin besteht, dass man alles kostenlos auf Google-Servern gespeichert hat, also auch dann darauf zugreifen kann, wenn man irgendwo bei Freunden oder sonst in der Welt ohne eigenen Laptop unterwegs ist, solange man nur einen Internetbrowser zur Verfügung hat. Und darüber hinaus bietet Google noch viel mehr, von Google Scholar für Wissenschaftler bis zu Google Books oder Google Picasa, mit dem man selbst Fotoalben im Internet erstellen kann - und alles gratis!


Wer hätte sich noch vor wenigen Jahren träumen lassen, dass so viele Dienste kostenlos zur Verfügung gestellt würden?


Google als Firma scheint ähnlich vorbildlich: Die Firmenspitze agiert intelligent und dynamisch, die Mitarbeiter sind handverlesen, überdurchschnittlich talentiert und motiviert und die Arbeitsbedingungen so gut, dass Google auch in dieser Hinsicht als Nummer-eins-Unternehmen weltweit gilt. Der Vortrag von Mitarbeitern dess Personalbüros von Google zieht heute an Universitäten in den USA mehr Zuhörer an als der Vortrag eines Nobelpreisträgers: Jeder will Mitarbeiter bei Google werden.


Die Gerüchteküche spricht von Hunderttausenden Bewerbungen monatlich, von denen 90 Prozent durch Google-Programme automatisch ausgeschieden werden. Der Rest wird genauer analysiert. Kommt man in den engeren Kreis, wird man von sechs Personen getrennt interviewt, und nur wenn alle ja sagen, bekommt man den Job. Motivation wird großgeschrieben: Alle Angestellten werden ermutigt, sich jede Woche mindestens einmal weit zurückzulehnen und mit Abstand zu der eigentlichen Arbeit über zukunftsträchtige Ideen nachzudenken. Das Essen in der Kantine ist natürlich kostenlos, und man kann so viel nach Hause mitnehmen, wie man will: Wenn dadurch die Zeit für einen Einkauf gespart wird kommt das am Ende ja vielleicht der Produktivität der Mitarbeiter und damit wieder Google zugute.


Google bietet in verblüffendem Tempo immer wieder Innovationen an und versteht es, die "Macht der Vielen" im Web 2.0 ("dem Internet zum Mitmachen") auszunutzen. Sein Image als Freund wird durch Stipendien genauso unterstützt wie durch erstaunliche Angebote, etwa Gmail Paper: Wer Google E-Mail verwendet, kann angeben, dass gewisse Dokumente in Papierform (also gedruckt) erwünscht sind - diese werden dann kostenlos ausgedruckt und zugesandt!
Auch das Firmenmotto, "Do no evil" (Tu nichts Böses), verstärkt den positiven Eindruck. Vieles, was Google macht, ist innovativ, intelligent und interessant, und wenig davon verletzt Gesetze in den USA. Dieses "wenig" statt "nichts" ist angebracht, da zurzeit einige Klagen gegen Google eingebracht sind respektive werden: Diese haben im Allgemeinen mit Urheberrechten zu tun. Mitglieder der YouTube- und der Picasa-Community stellen manchmal Filmclips oder Bilder ins Internet, die urhebersrechtlich geschützt sind. Google als Medieninhaber kann dafür belangt werden.


Natürlich drängt sich die Frage auf: Wenn alles, was Google anbietet, kostenlos ist, wie kann dann Google profitabel sein? Die Antwort, die Google gibt, ist einfach: über Werbeeinnahmen. Tatsächlich wird ja bei jeder Google-Suche in einer Spalte am rechten Bildrand unaufdringlich Werbung angeboten, wobei diese abhängig vom Suchbegriff ist, also zum Gesuchten "passt". Firmen müssen dafür natürlich zahlen. Und mehr zahlen, wenn sie öfter oder besser platziert werden wollen. Google hat kürzlich sogar eine Computerspielfirma übernommen (um dort mit Werbung besser an eine bestimmte Altersklasse heranzukommen), experimentiert mit Werbung im Fernsehen und interessiert sich für Google Boards, interaktive Plakate, die auf Personen reagieren - im Moment wohl nur eine Investition in die Zukunft. Immerhin hat Google im vergangenen Jahr 10,6 Milliarden Dollar über Werbung eingenommen (eine Steigerung um 73 Prozent im Vergleich zu 2005). Dafür kann man schon einiges anbieten. Wir lassen uns doch von ein bisschen Werbung nicht stören, ja wir vergönnen doch einer so netten und cleveren Firma ein bisschen Gewinn mit Inseraten, oder?
Leider ist die Situation nicht so einfach. So seltsam das nach dem obigen Loblied klingen mag: Ich bin überzeugt, dass Google eine Gefahr für unsere Gesellschaft ist, eine so große Gefahr, dass man sie nicht hinnehmen kann!


Zunächst hat Google in großen Teilen der Welt mehr oder minder ein Monopol im Bereich Internetsuche - und sind Monopole nicht per se immer etwas Zweifelhaftes? Die offiziellen Zahlen für Google, was den Marktanteil bei Suchanfragen anbelangt, liegen in den USA bei knapp über 63 Prozent. Yahoo ist mit 21 Prozent schon weit abgeschlagen. Auf Grund der Benutzung der Suchmaschine Google, aber vor allem auch der anderen Dienste gelingt es Google, über unglaublich viele Menschen ein genaues "Profil" zu erstellen: Jedes E-Mail, das über Gmail läuft, kann von Google analysiert werden; jeder File in Google Files, jeder Clip in YouTube, jedes Foto in Picasa gibt Google Informationen. Weltweit abgestimmter und abgesicherter Datenschutz ist nicht gegeben, und es ist unrealistisch zu hoffen, dass sich das rasch ändern wird.


All das verwendet Google, um sehr viel über viele von uns, auch über Organisationen und was sich in der Welt so tut, in Erfahrung zu bringen. Es ist ja das erklärte Ziel von Google, das gesamte Wissen der und über die Welt zur Verfügung zu stellen. Dazu benötigt man allerdings sehr komplexe Werkzeuge, die aus den vielen kleinen Informationsstückchen, die Google aus seinen verschiedenen Quellen sammelt, durch sorgfältige Analyse ein Gesamtbild schaffen. Dieses "Herausschälen" von Wissen aus einem Meer von Information wird im Jargon der Informatiker "Data Mining" genannt: Die Entwicklung immer besserer Verfahren ist eine der großen Herausforderungen der Informatik.


Die offizielle Begründung, warum Google "alles" über uns wissen will, lautet: Man kann nur dann Menschen optimal bedienen (etwa mit gezielter Werbung), wenn man alles über sie weiß. Das stimmt. Und kann man dezente und gut gezielte Werbung ("Empfehlungen") nicht durchaus akzeptieren, ja vielleicht sogar als positiv empfinden? Mag sein. Freilich, mit unserer Privatsphäre ist es vorbei.


Wie stolz waren wir auf unsere Datenschutzgesetze. Jetzt wirken sie mitunter wie ein Witz: Sie behindern österreichische Organisationen und Behörden; aber die können nicht auch nur annähernd so viel über Personen in Österreich in Erfahrung bringen, wie das Google kann! Wem traue ich mehr: Google - oder einer österreichischen Behörde, die einem Mindestmaß von Kontrolle unterliegt?


Google weiß also alles - oder will jedenfalls in Zukunft alles wissen. Privatsphäre ade! Freilich, benötigen wir überhaupt eine Privatsphäre? Hat es die früher in kleinen Dörfern gegeben, wo doch alle alles über alle wussten? Ist die Privatsphäre vielleicht erst durch die Verstädterung entstanden, ist sie also eine ohnehin erst "kürzlich" eingetretene Erscheinung, die jetzt eben dem Ende zugeht? Können wir als brave Bürger, die nichts zu verbergen haben, dies nicht einfach akzeptieren, als kleinen Preis für die Segnungen des Internets?


Nein. Wären Sie glücklich, wenn Google Informationen über Sie oder eine Organisation, der Sie nahestehen, an beliebige Interessenten verkauft? Ich behaupte nicht, dass Google das jetzt tut. Ich glaube allerdings, dass Google das in der Zukunft tun muss: Google ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft. Die Führung eines solchen Unternehmens ist verpflichtet, alle legalen Mittel zur Wertsteigerung der AG einzusetzen. Sie kann von den Aktionären geklagt werden, wenn sie sich bewusst Gewinn entgehen lässt.


Google wird damit zur mächtigsten Detektei, die es je gab! Wer über potenzielle zukünftige Mitarbeiter, über eine konkurrierende Organisation, über eine andere Person Bescheid wissen will, wird in Zukunft mit Google verhandeln müssen. Ist es beispielsweise sinnvoll, wenn in Österreich ein Team von Kriminalbeamten Pädophile im Internet jagt, wenn man gegen ein kleines Honorar sehr viel effizienter Google beauftragen kann? Ob in der Vergangenheit solche "Kooperationen" mit Google schon stattgefunden haben, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube aber nicht, dass sich Google in Zukunft so lukrative Geschäfte entgehen lassen kann.
Und das ist erst der Anfang der Probleme. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten, das Wissen, das Google hat, zu Geld zu machen. Und ist es nicht fast unausweichlich, dass das auch geschehen wird?
Google könnte gegen eine gewisse Summe beispielsweise Einblick in das eigene Profil erlauben. Wer wird diese Möglichkeit nicht fallweise in Anspruch nehmen, schon um sicherzustellen, dass nichts Falsches, Negatives gespeichert ist! Für eine etwas größere Summe könnte Google dann auch gestatten, dass man Korrekturen durchführt (wobei ich mir vorstellen könnte, dass Google in einem solchen Fall für besondere Kunden die Originalversion aufbewahrt).
Gesellschaftlich besonders brisant ist das Zusammenspiel von Google und Wikipedia. Ob Google Wikipedia insgeheim unterstützt oder nicht, weiß ich nicht. Es laufen allerdings zurzeit größere Tests, ob Einträge der Wikipedia bei Google im Durchschnitt besser gereiht sind als bei anderen Suchmaschinen. Das Ergebnis ist noch unbekannt. Eines steht aber fest: Viele Menschen, die sich im Internet mit einem Thema beschäftigen, befragen zuerst Wikipedia und dann Google oder umgekehrt, ohne sich je die Mühe zu machen, Gefundenes zu verifizieren oder auf Originalquellen zurückzugreifen. Wikipedia ist nicht immer verlässlich - und kann es auch nicht sein, das ist wohlbekannt. Dass man mit Geld Inhalte in der Wikipedia verfälschen oder neue hinzufügen kann, ist auch klar. Findet man mit Google Informationen, dann sind diese oft nicht objektiv, sondern "opportunistisch" gereiht, und die Informationen selbst können sich auf beliebig unzuverlässigen oder einseitig orientierten Servern befinden. Anders formuliert: Wenn man nur mit einer Suchmaschine und Wikipedia arbeitet, wird man oft nicht "die Wahrheit", sondern eine verzerrte Sicht erhalten.


Stefan Weber hat in seinem Buch "Das Google Copy Paste Syndrom" sehr treffend formuliert: "Wir sind im Begriff, uns die Wirklichkeit zu ,ergoogeln`." Das ist an sich schlimm genug. Wenn die "ergoogelte" aber eine bewusst verzerrte Wirklichkeit ist, dann wird es dramatisch.


Dass Google zu viel über uns weiß, das wurde inzwischen schon an vielen Stellen berichtet, und dass auf Informationen im Web kein Verlass ist - und auf solche in der Wikipedia nur bedingt - spricht sich zum Glück auch allmählich herum. Tatsächlich ist die Situation aber noch gefährlicher und komplexer. Google weiß ja nicht nur "alles" über Personen, sondern auch über Organisationen und vieles über wirtschaftliche Entwicklungen.


Google kann zum Beispiel durchaus in der Lage sein, die Entwicklung von Immobilien in einer bestimmten Weltgegend mit hoher Sicherheit durch Analyse der vorliegenden Daten vorherzusagen. Unsere Wirtschaft, besonders unsere Börsen, leben davon, dass jeder Einsatz eine Spekulation ist. Gleichgültig, wie genau man mit bisherigen Methoden (auch Computeranalysen) die Entwicklung verfolgt hat, blieb ein Rest von Unsicherheit. Google ist im Begriff, diese Unsicherheit zu beseitigen, und kann damit an Börsen agieren wie nie jemand je zuvor. Es ist zu bezweifeln, dass unser Wirtschaftssystem einen "Mitspieler" aushält, der die (nähere) Zukunft immer genauer kennt!


Insgesamt sollte es klar sein, dass Data Mining in dem Umfang, in dem es heute Google auf Basis der vielen Quellen kann, nicht akzeptierbar ist. Allerdings: Das machen andere Organisationen auch, heute in kleinerem Umfang, in Zukunft vielleicht ähnlich erfolgreich wie Google. Es ist daher notwendig, nicht nur etwas gegen Google zu unternehmen, sondern gegen dieses neue Phänomen an sich.
sKonkreter: Data Mining im großen Stil und große Suchmaschinen können nicht ohne Regeln dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden. Sie gehören in jene Kategorie von Aktivitäten, in die die öffentliche Hand eingreifen muss, wie sie das ja auch in anderen Bereichen tut: bei den Schulen, bei der Zulassung von Medikamenten oder beim Ausbau einer Grundstruktur an Verkehrswegen.


Regierungen und die EU sollten sich bemühen, dass zumindest spezialisierte Suchmaschinen und große Portale wie Wikipedia von gemeinnützigen Einrichtungen betrieben werden, deren Objektivität prüfbar ist und die allmählich die Monopolstellung von Google und Wikipedia brechen. Die technischen Voraussetzungen hat Europa mit Firmen wie FAST in Oslo, mit Organisationen wie den Fraunhofer-Instituten in Darmstadt, dem L3S in Hannover oder Hyperwave in Österreich allemal.


Firmen, die Data Mining im großen Stil betreiben, oft mit Unterstützung von großen Suchmaschinen, müssen in die Schranken gewiesen werden, notfalls mit AntitrustMaßnahmen. Dies gilt vor allem auch für Google, weil sich Google immer neue Informationsquellen erschließt: sei es über das schon erwähnte Gmail Paper (durch das alle anderen Informationen jetzt mit der Wohnadresse und einem nicht mehr verfälschten Namen in Verbindung gebracht werden können), sei es über den kostenlosen drahtlosen Zugang zum Internet, der in Teilen der USA unter dem Namen Google TiSP angeboten wird.
Zum Glück (das verdanken wir doch dem Datenschutz) sind Auswertungen wie die Analyse von E-Mails etwa in Österreich und Deutschland ungesetzlich. Nur: Wer Dienste von Firmen nutzt, die potenziell Computer in Ländern ohne solche Gesetzgebung verwenden, sollte sich der damit verbundenen genauen Profilbildung bewusst sein. 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2007)

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