Die ganz große Phrase

Was einem nicht passt, das bezeichnet man schlicht als „undemokratisch“. Es gibt heute kaum einen Begriff, der so verwahrlost ist wie „Demokratie“. Versuch einer Entmystifizierung.

DEMOKRATIE IST DAS GROSSEpolitische Schlag- und Programmwort unserer Zeit, national und international. Der Begriff ist Parole einer globalen Hegemonialpolitik. – Der welthistorische Sieg des „Westens“ im „GreatContest“ (Isaac Deutscher) des Kalten Krieges mit dem kommunistischen Block wurde zu Recht als Sieg der Demokratie über die Diktatur gefeiert – wie einmal schon, fast ein halbes Jahrhundert zuvor, nach dem heißen Krieg gegen den expansiven Nationalsozialismus. Diesmal aber – in dem berühmten Aufsatz von Francis Fukuyama „The End of History?“ (1989) – durchaus hegelianisch als endgültiger und – bis auf noch zu beseitigende Residuen einer vormodernen Zeit – globaler Sieg der Demokratie als höchstes, historisch nicht überholbares Prinzip der politischen Freiheit überhaupt.

Aber wenn heute – und dieses „Heute“ datiert zurück auf ebenjene Wendejahre 1989/ 91, also auf den Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Sowjetsystems – von „Globalisierung“ die Rede ist, so vor allem im Hinblick auf die Ökonomie, also in Bezug aufdie nationale Entgrenzung der Güter- und Finanzmärkte und auf die Kontinente überspannende Organisation der Produktion durch sogenannte „Global Player“. Nun ist es gerade diese Globalisierung des Kapitalverhältnisses und die damit angeblich einhergehende politische Entmächtigung des Nationalstaates gegenüber den Imperativen des global agierenden Kapitals, welche kritische Beobachter schon sehr früh, wenige Jahre nach der Wende, von einer Krise, ja von einem „Ende der Demokratie“ sprechen ließen – so der Titel des Buches von Jean-Marie Gu©henno aus dem Jahre 1993. Was Gu©henno voraussagte, war das Entstehen einer imperialen, ökonomisch determinierten Weltstruktur ohne politisches Zentrum, in der die liberal-demokratischen Nationalstaaten nicht mehr die maßgeblichen politischen Größen sind, ja als demokratische überhaupt absterben.

Nun herrschte in der politischen Ideengeschichte an solchen extremen Prognosen noch niemals ein Mangel, auch das Ende des Staates selber, und nicht nur der Demokratie, wurde schon des Öfteren vorhergesagt. Tatsächlich aber ist der moderne demokratische Nationalstaat ein äußerst flexibles Gebilde, und man verwechselt daher leicht einen inneren Formwandel unter veränderten äußeren Bedingungen mit dem En-de einer historischen Epoche. Realiter bleiben die Staaten nach wie vor die entscheidenden politischen Akteure (auch gegenüber und innerhalb der EU), ja ihre Bedeutung als politische Organisationsform der Völker nimmt sogar deutlich zu. Das zeigt nicht nur die seit den Sechzigerjahren stark angestiegene Zahl völkerrechtlich anerkannter und formal gleichberechtigter Staaten, sondern gerade auch das heutige Problem der „failing states“ und der damit verbundenen Bürger- und Interventionskriege. Auch bei dem, was man heute plakativ „Neoliberalismus“ nennt, handelt es sich in keiner Weise um einen Rückzug des Staates, sondern um eine Verschiebung im Gefüge der Staatsfunktionen, wie schon ein Blick auf die rapide zunehmende Mikronormierung und Pädagogisierung des Alltagslebens lehrt. (Es wird dabei nur manches über die Bande internationaler Organisationen gespielt.) So wird ja auch oft immer noch pauschal behauptet, schon der klassische Liberalismus sei theoretisch und praktisch für einen „Nachtwächterstaat“ eingetreten. Aber die angeblich wesensgemäße Staatsfeindlichkeit des Liberalismus ist eine Legende, sie war es gestern und ist es heute unter globalisierten, neoliberalen Bedingungen. Aufstieg des modernen Staates und Aufstieg des Bürgertums liefen jahrhundertelang parallel zu einander, und der Sieg des Bürgertums in seinem Kampf gegen Absolutismus und Feudalität hat keine Abschwächung des Staates, sondern im Gegenteil dessen Ausbau und Vervollkommnung nach sich gezogen. Das konnte auch nicht anders sein, denn gerade eine freie Wirtschaft setzt einen starken, normsetzenden Verwaltungs- und Steuerstaat voraus: Soll nicht das Faustrecht gelten, so verlangt die freie Konkurrenz in der Wirtschaft die Einheitlichkeit und Einhaltung der Spielregeln.

Ein starker und effektiver Staat wird denn auch stets vor allem dann verlangt, wenn es um den Schutz bürgerlicher Eigentumsrechte und um die Verteidigung jener sozialen Ordnung selber geht, in der derartige Rechte gedeihen; solches Verlangen kann durchaus manchmal im Verzicht auf den politischen Liberalismus zur Rettung des wirtschaftlichen gipfeln. Umgekehrt wird den Forderungen nach politischer Lenkung der Wirtschaft und insbesondere dem Ausbau des Versorgungs- und Sozialstaates im Gegenzug die Losung „Weniger Staat!“ entgegengestellt. Zwischen diesen Polen spielt die reale ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitische Debatte sich ab, alles jenseits davon ist heute, nach der welthistorischen Wende, nur noch subkulturelle Träumerei. Das Bürgertum, das inzwischen kein Bürgertum im vollen historischen, kulturellen und soziologischen Sinne des Wortes mehr ist, sondern eine in sich eher heterogene Klasse von Unternehmern, Managern und Finanzinvestoren, weiß, dass es den Einfluss auf den Staat mit anderen gesellschaftlichen Kräften und parastaatlichen Organisationen teilen muss; da Wirklichkeit und Macht des Staates unübersehbar sind, ist es gezwungen, um solchen Einfluss zu kämpfen – und dieser Kampf ist Kampf um den Einsatz eines Staates, der nicht mehr der klassisch bürgerlich-liberale sein kann, für divergierende soziale Interessen innerhalb einer ökonomisch bestimmten globalen Hegemonialordnung: Der Staat als Kampfgelände zur Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums und um dessen Verteilung zwischen den sozialen Gruppen ist die Formbestimmung der heutigen Massendemokratie.

Panajotis Kondylis hat schon kurz nach den Wendejahren darauf aufmerksam gemacht, dass die westlichen Länder ihre Koppelung von Freiheit und Wohlstand, der sie ihren Sieg im Kalten Krieg zuschreiben, nichtals liberal-demokratische, sondern als massendemokratische Gesellschaftsformationen erreichten, indem sie nämlich den oligarchischen Liberalismus hinter sich ließen und die Kluft zwischen Bürger und Proletarier durch den Massenkonsum und die soziale Mobilität überbrückten, was schließlich den Bürger wie den Proletarier als klar umrissene soziologische Typen auflöste.

Das zentrale Merkmal der Massendemokratie, das sie von allen früheren Gesellschaftsformationen unterscheidet und zu einem geschichtlichen Novum macht, ist die Überwindung der Knappheit der Güter. In dem Maße, als die Massendemokratie den oligarchischen Liberalismus allmählich verdrängte, an die Stelle geschlossener Elitenhierarchien eine zumindest prinzipiell unbegrenzte soziale Mobilität trat, nahm auch die herrschende Ideologie zunehmend individualistischen, hedonistischen, egalitären und wertpluralistischen Charakter an. Die charakteristische „Gestalt“ (Ernst Jünger) postmoderner Massendemokratien ist daher weder der „Arbeiter“ noch der „Bourgeois“, sondern der „kleine Mann, der sich nicht unterkriegen lässt“. Zu den politischen Institutionen hat er ein weitgehend konsumistisches Verhältnis. Wo er sich engagiert, ist er weniger kämpferisch als aufsässig, mehr lästig als gefährlich. Im Übrigen ist er „tolerant“, sofern die „anderen“ nicht gerade seine Nachbarn sind.

Dennoch hat die Massendemokratie die Gleichheit der Macht selbstverständlich ebenso wenig verwirklicht wie die Gleichheitdes Konsums. Beides ist an funktionelle Positionen gebunden, die ihrerseits, vor einem ideologisch egalitären Hintergrund, meritokratisch legitimiert sind. Deshalb ist die Meritokratie massendemokratischer, ideologisch egalitärer Gesellschaften auch immer durchsetzt von einem sich demokratisch legitimierenden Populismus. Meritokratie undPopulismus müssen innerhalb der Massendemokratie einen unaufhörlichen Kampf miteinander austragen, dessen Ausgang von Fall zu Fall anders aussieht. Der Populismus muss permanent psychologische Bedürfnissebefriedigen, und zwar dadurch, dass er Ersatzfür die Gleichheit da schafft, wo faktisch keine vorhanden ist. Solchen Ersatz bietet zum Beispiel die zunehmende Beseitigung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, so dass sich der „kleine Mann“ oder auch der „mündige Bürger“ aufgrund der Berichte der Massenmedien davon überzeugen kann, dass sich dieses oder jenes Mitglied dieser oder jener Elite „menschlich“ verhält und im Allgemeinen genauso ist „wie wir alle auch“. Der immanente Populismus der Massendemokratie macht es für die Mitglieder der Eliten zur ersten Pflicht, bei jeder Gelegenheit zu demonstrieren, wie nahe sie dem Menschen auf der Straße stehen; eine anderen Haltung wird als Verachtung des Mitmenschen sowie der geltenden Gleichheitsgrundsätze empfunden und entsprechend geahndet. Diesbezüglich tritt der „kleine Mann“ in der Massendemokratie besonders anspruchsvoll und selbstbewusst auf, und insofern unterscheidet er sich vom Kleinbürger des bürgerlichen Zeitalters, der sich zwischen Bürgertum und Proletariat eingekeilt fühlte und die Welt mit entsprechend ehrfurchtsvollen oder ängstlichen Augen sah.

Die mittlere Schicht, die das Gros der massendemokratischen Gesellschaft ausmacht, betrachtet sich hingegen immer mehr als die universale Klasse und prägt mit ihren Lebensgewohnheiten, ihrem Geschmack und ihren Moralvorstellungen das massendemokratische Leben in seinen charakteristischen Zügen. In diesem seinem Selbstbewusstsein blickt der mehr oder weniger „kleine Mann“ oft auf die Mitglieder der politischen Eliten beziehungsweise auf „die Politiker“ verächtlich herab und legt seine Gleichgültigkeit gegen ihr Geschäft an den Tag. Er verachtet „die da oben“, weil sie „da oben“ sind. Die „Politik als Beruf“ (Max Weber) verliert somit erheblich an Autorität im alten Sinne des Wortes und erscheint als ein „Job“ neben vielen anderen, der von Spezialisten einer besonders suspekten Art ausgeübt wird und genauso wie jeder andere auch nach Kriterien der Alltagsmoral beurteilt wird. Bedient und gefördert wird diese Attitüde durch eine Politik des Ressentiments, welche zunehmend an die Stelle klassischer Interessenspolitik tritt. Politische Gleichgültigkeit, die mit der Reduktion der Politik auf „Job“ zusammenhängt, und Populismus, der den Träger dieses Jobs zu einem bestimmten Verhalten zwingt, um ein Minimum an Aufmerksamkeit zu erregen, sind daher notwendige Begleiterscheinungen der Massendemokratie und zeichnen ihr Gesicht.

ES LIEGT AUF DER HAND, DASS unter diesen Bedingungen der Ausdehnung des demokratischen Prinzips dieses zugleich auch einerseits ausgedünnt wird, andererseits aber auch immer eingehegt werden muss; das heißt, in modernen Massendemokratien ist das im prägnanten Sinn demokratische Element nur ein Element eines komplexen politökonomischen Herrschaftsgefüges. Gleichwohl legitimieren diese sich vor allem durch die Pathetisierung der demokratischen Parole. Dieser Widerspruch zwischen Realität und Rhetorik führt zu jener phrasenhaften Verwendung des Begriffs „Demokratie“, die wir seit Längerem beobachten können. Tatsächlich findet sich heute – sieht man von der Allerweltsvokabel „Kultur“ einmal ab – in der öffentlichen Debatte kaum ein Begriff, der semantisch so verwahrlost ist wie der Begriff „Demokratie“. Er fungiert als Gefäß für alles Gute und Schöne, das man sich im politischen Leben nur wünschen kann; von der Friedfertigkeit und Toleranz bis zur Menschenliebe gibt es nichts, was das Wort „demokratisch“ nicht an Versprechen enthielte. Und was einem nicht passt, das bezeichnet man als „undemokratisch“. Im Namen der Demokratie wird interveniert, protektioniert und diskriminiert, vor allem wird in ihrem Namen moralisiert.

Deshalb war in letzter Zeit auch viel von „demokratischen Werten“ die Rede, und weilein bisschen Pathos nicht schaden kann, hat man gleich die „demokratischen Grundwerte“ beschworen (was für feinere Ohren freilich so albern klingt wie „eherne Gesetze“): die Menschenrechte und die Humanität.

Aber so wertvoll diese Werte auch sind, demokratische Werte sind sie nicht. Und dies nicht deshalb, weil sie undemokratisch wären, sondern weil es überhaupt keine demokratischen Werte gibt. Schon Kelsen hat gesagt, dass der demokratische Gedanke den Relativismus als Weltanschauung voraussetze. Es gibt demokratische Strukturen und Verfahrensweisen, aber es gibt keine ethische Norm, die unablöslich mit Demokratie verbunden wäre, es liegt ganz im Gegenteil im dynamischen Wesen der Demokratie, dass sie alle Werte zur Disposition stellt; sie selbst ist moralisch leer. Demokratie ist formal, oder sie ist keine, und der Begriff einer „inhaltlichen Demokratie“ ist ein Oxymoron, politisch eine Mogelpackung. Demokratie heißt Herrschaft des Demos, also Volksherrschaft, und die ist, nimmt man den Begriff in seiner prägnanten Bedeutung, nicht unbedingt erfreulich. Denn reine Demokratie hat ihr Telos nicht in der Freiheit, in deren Namen sie propagiert wird und mit der man sie legitimiert, sondern in der Diktatur und im Terror. Die gesamte klassische Staatstheorie hat das gewusst, von Platon über Kant bis Hegel, aber die heutige Politrhetorik hat es vergessen gemacht. Deshalb redet man seit einiger Zeit von „Populismus“, will man die unerfreulichen Züge der Demokratie hervorheben. Doch der Begriff „Populismus“ ist nur die latinisierte Form von „Demokratismus“ (po- pulus/demos), und der „Populist“ ist die moderne Gestalt des „Demagogen“, der sein Vorbild hat in Perikles, dem Ersten, der diesen Titel trug. – Diese immanente Dialektik des demokratischen Prinzips, das Umschlagen von Freiheit in Diktatur, ist bereits deutlich erkennbar in Rousseaus „Contrat social“ (1764), der die Große Revolution von 1789 ganz wesentlich inspiriert hat. Die Basis der Konstruktion ist liberal: Die Rechtmäßigkeit des Staates gründet wie bei Thomas Hobbes und John Locke auf einem fiktiven Vertrag freier und gleicher Individuen, die dadurch zu Bürgern werden. Aber bei der Entfaltung des wichtigsten Begriffs der Rousseauschen Demokratie, der „volont© g©n©rale“, zeigt sich, dass in ihr eine durch den Druck der Mehrheit erzwungene Einstimmigkeit herrscht, die alle inneren Differenzen des Gemeinwesens zum Schweigen und damit zum Verschwinden bringt. Es darf nach dem „Contrat social“ keine politischen Parteien geben, keine organisierten Sonderinteressen, keine religiösen Differenzen, nichts, was das homogene Volk in Gruppen trennt, ja nicht einmal ein Finanzwesen, weil dieses als äußerste Form der Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen die Transluzidität des homogenen Volkskörpers trüben würde.

Der Gedanke des freien Vertrags aller mit allen, auf dem das Ganze beruht und von dem es ausgeht, kommt aus einer ganz anderen, Vielstimmigkeit, gegensätzliche Interessen, Verschiedenheiten und Egoismen – oder, apologetisch und objektivistisch gewendet: eine Pluralität von „Werten“ – vorrausetzenden Gedankenwelt, aus dem Liberalismus. Die „volont© g©n©rale“ hingegen, wie Rousseaus sie konstruiert, beruht auf der Homogenität des Volkes als einer Sphäre der politischen Öffentlichkeit, in der die Individuen zu einem Ganzen verschmelzen, das nicht durch „Werte“, die immer auch Gegenwerte und damit Frontstellungen provozieren, sich auseinanderdividieren lässt. Nur das jedoch ist wirklich konsequente Demokratie: Die ideologische Identität von Herrschenden und Beherrschten, was aber realiter auf die Einparteiendiktatur hinausläuft. Deshalb gibt es keine demokratischen „Werte“, weil die reine Demokratie alle „Werte“ zur Disposition stellt und auflöst.

Was es freilich gibt, sind liberale Werte, ja der Begriff des Wertes selbst stammt aus dem Liberalismus, und er bezeichnet ursprünglich eine ökonomische Kategorie. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde er in die Moralphilosophie importiert, also in jenem historischen Augenblick, da infolge der Aufklärung der Nihilismus Realität geworden, das heißt jede transzendente Ordnung, die dem irdischen, traditionalen Herrschaftsgefüge Legitimität verliehen hatte, zusammengebrochen war – keinem der großen Moralphilosophen vor Nietzsche wä-re es beigekommen, Handlungsmaximen in „Werten“ zu fundieren. Ihnen ging es auch in der Ethik um Wahrheit, um die Erkenntnis einer normativ verbindlichen metaphysischen Ordnung. Weil die soziale Struktur und die politische Herrschaft in einer objektiven Transzendenz begründet waren, waren vormoderne Gesellschaften auch weder demokratisch (außer in Zeiten des Umbruchs), noch waren sie liberal.

Umgekehrt sind moderne, säkulare Massendemokratien in ihrem Kern nihilistisch, weil sie rein immanent begründet sind, ohne Stütze einer objektiven Wahrheit. Sie sind, wie Georg Luk¡cs gesagt hat, „transzendental obdachlos“. Denn wenn legitime Herrschaft tatsächlich „vom Volk“ ausgeht, und nur von ihm ohne nähere Qualifikationen, dann gibt es kein wie immer geartetes Kriterium, diese Herrschaft zu begrenzen – jedes Gesetz, jeder „Gesellschaftsvertrag“, jede Selbstbindung des Volkes steht grundsätzlich immer zu seiner Disposition. In der reinen Demokratie gibt es nur die Gleichheit der Gleichen und den Willen derer, die zu den Gleichen gehören. Alle anderen Institutionen verwandeln sich in sozialtechnische Behelfe, die demokratisch immer auf dem Prüfstand stehen. Denn nimmt man das demokratische Prinzip ernst, so kennt die Souveränität des Volkes kein Jenseits, dessen normativer Kraft es unterworfen wäre, und jede eigene Entscheidung kann es revidieren; daher auch die Fragwürdigkeit von „Grundwertekatalogen“, die immer so tun müssen, als seien sie der Geschichte entzogen, was der Idee der Demokratie frontal widerspricht. Eine Grenze findet die Souveränität nur in der von anderen Völkern, aber das sind Machtfragen immanenter Natur, keine einer transzendent begründeten Moral, auch keine demokratischen Ursprungs.

Daher ist der moderne massendemokratische Staat immer strukturiert von Prinzipien, die selbst nicht demokratischer Natur sind, die er zwar braucht, um funktionieren zu können, die er aber gerade als demokratischer grundsätzlich auch immer bedroht: Garantierte Rücksicht auf Minderheiten und Schwache, Liberalität, Gewaltenteilung, Repräsentativität und vor allem Legalität sind wichtige politische, aber nicht demokratische Prinzipien, so wenig wie Höflichkeit, Weltoffenheit und Humanität demokratische Tugenden sind. Sie sind Tugenden per se, die auch unter anderen Herrschaftsformen möglich sind – die klassischen Fürstenspiegel sind durch die Bank ihre Paränesen. In modernen liberal-demokratischen Massendemokratien ist daher das demokratische Prinzip der „Identität von Regierenden und Regierten“ immer repräsentativ gebrochen und fungiert tatsächlich weniger als Herrschaftsprinzip denn als Prinzip der Machtkontrolle, als ein Element jener checks and balances, das die synchronischen Elemente der Gewaltenteilung – Legislative, Judikative, Exekutive – diachronisch ergänzt.

Was wir heute unter „Demokratie“ verstehen, ist eine Form politischer Herrschaft, die eine unbegrenzte Vielzahl realer Ausprägungen kennt, von der direkt-plebiszitären über die parlamentarisch-repräsentative und die monokratische Präsidialherrschaft bis zu ihrer Selbstnegation in der Diktatur, die nur möglich sind, weil sie in unterschiedlicher Weise von Prinzipien durchsetzt und gestaltet sind, die selbst nicht demokratischer Natur sind. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie kein metaphysisches Dach über dem Kopf haben, das ihrer Legalität ein für alle mal Legitimität verleiht – demokratisch sind sie immer von Delegitimation bedroht. In dieser „ungesicherten Diesseitigkeit“ (Klaus Podak) liegt die Würde, aber auch das Risiko der modernen Demokratie. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2007)

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